Das letzte Statement

von Jule Stinkesocke

Der Thread über Unstimmigkeiten bei Jule Stinkesocke und ihrer Pflegetochter Helena am 2. April 2023 schlägt auf Twitter ein wie eine Bombe. 70.000 Follower und Millionen von Blog-Besuchern warten auf eine Erklärung: Ist Jule fake oder nicht?
Aber 'Jule' lässt sich Zeit. Sie löscht erstmal ihr Profilbild und geht hinter ein Schloss.

In der Nacht vom 4. auf den 5. April 2023 veröffentlicht 'Jule' schließlich auf ihrem Twitter-Account dieses lange Statement - und löscht es wenige Stunden später, genau wie ihren Account, den von Helena und sogar ihren Blog 'Aus dem Leben einer Stinkesocke'. Wir haben es gesichert und kommentiert. Wer das Statement erstmal in Ruhe durchlesen will: Das Blogmagazin.
SPOILER: Jeder nigerianische Prinz ist glaubwürdiger.
Kommentierte Version
Es liegt mir nicht, Texte zu schreiben, die erwartet werden. Als Bloggerin schrieb ich rund 15 Jahre lang ausschließlich unerwartete Texte. Das ist mir seit Sonntag nicht mehr möglich. Seit Sonntag bin ich verbrannt.
'Verbrannt'. Jule spricht ein großes Wort gelassen aus, hätte ich fast geschrieben, aber in Wahrheit ist es genau umgekehrt: Ein Vorfall, der eigentlich gar nicht so viel hergibt, wird zum Riesendrama.
Worum ging es denn in dem Thread, der die ganze Aufregung auslöste? Im Grunde nur um einige merkwürdige Beobachtungen: Geklaute Profilbilder von einer australischen P*rnodarstellerin. Den Zusammenhang mit dem Mann, der in ihrem Impressum stand, das in den letzten Jahren auf die Adresse eines inklusiven Sportvereins lief. Eine Spendenaktion für den Mann aus dem Impressum. Eine vermutete Stalker-Ausrede. Abstruse Tweets von Helena.
Das war's auch schon. Alles in allem nicht schön, aber auch kein Anlass, um sich zu löschen, denn: Wieviel Prozent der Twitteraccounts haben wohl ein Profilbild, das nicht das eigene Gesicht zeigt? Wieviele Blogger verschleiern ihr Impressum auf die eine oder andere Art? Wer hat noch nie eine Spendenaktion geteilt?
Ich bin um Stellungnahme gebeten worden. Vielfach. Um Erklärungen. Inzwischen weiß ich, dass vielen Menschen meine Erklärungen nicht mehr ausreichen werden. Von Überzeugen ganz zu schweigen. Egal, was ich schreibe.
Schriebe ich, dass Jule Stinkesocke eine ausgedachte Figur sei, mit fiktiven Erlebnissen und einem konstruierten oder orchestrierten Leben, schriebe ich die Unwahrheit. Schriebe ich, dass Jule Stinkesocke eine reale Person sei, mit realen Erlebnissen und einem realen Leben, schriebe ich ebenfalls die Unwahrheit.
Keine ausgedachte Figur, keine reale Person. Mehr so eine semi-fiktiv-reale Figur-Person. 🤔
Für eine real existierende Kinderärztin 'Jule' um die 30 wäre die Stellungnahme einfach gewesen: Leute, echt sorry, aber ich bin behindert, in einer verantwortungsvollen Position, habe eine minderjährige Pflegetochter mit diversen Handicaps und ja, wir wollen einfach anonym leben und bleiben, gerade weil wir in einer Kleinstadt wohnen.
Auch für eine Person hinter einer erfundenen 'Jule' wäre das eine extrem gute Möglichkeit gewesen, klar Schiff zu machen: Jawoll, ich habe das alles federführend verfasst, ich habe in meinem Ehrenamt/Verein/whatever die Probleme behinderter Mädchen hautnah mitbekommen und gemeinsam mit ihnen beschlossen, 'Jule' als Projekt ins Leben zu rufen, um das Bewusstsein für die Wichtigkeit von Inklusion auf diesem Weg in der Öffentlichkeit zu schärfen und die wahren Erlebnisse unterschiedlicher junger Frauen in einer Person zu bündeln - ganz ehrlich, ein solches Statement wäre gefeiert worden und nach ein paar Tagen wäre das Thema dann auch durchgewesen.
Dieses Mäandern um den wahren Kern machte jedoch alles noch nur schlimmer.
Die Wahrheit ist, und das kommuniziere ich seit vielen Jahren in meinem Blog immer und immer wieder: Ich schreibe über meine Erlebnisse. Über reale Erlebnisse. Als querschnittgelähmte Frau. Nicht alle. Nicht immer sofort. Nicht immer am richtigen Ort. Nicht immer mit exaktem Wortlaut. Und niemals mit den realen Namen. Weder mein Name ist real, noch die Namen der anderen Menschen. Ausschließlich der inhaltliche Kern dessen, was ich schreibe, ist real.
Zusammenfassung: 'Jule' schreibt über reale Erlebnisse, die irgendwann mal irgendeiner querschnittgelähmten Frau passiert sind. Das ist durchaus plausibel. Mit Seitenblick auf die inklusive Sexyacht würde ich allerdings behaupten: Nein, so ganz real war das dann doch nicht.
Und was den Namen angeht, so ist das die erste definitiv widerlegbare Lüge in diesem Statement. 'Jule' hatte seit einem Jahrzehnt einen Wikipedia-Eintrag als 'Julia Gothe' - und genau dieser Name steht auch mit Unterschrift auf dem Gründungsprotokoll des Bloggerbunds von 2012. Eine ganz legale Vereinsgründung.
Zu diesem Zeitpunkt war noch kein Stalker weit und breit in Sicht. Unsere Recherchen haben ergeben, dass 'Julia Gothe' unter diesem Namen auch von 2009 bis 2014 in der Mitgliederkartei ihres Sportvereins geführt wurde. Und dass sie offiziell 'Jule Stinkesocke' heißt, dürfte niemand ernsthaft angenommen haben.
Was die zeitliche Divergenz dieser angeblich realen Erlebnisse angeht: Viele davon sind bereits in Beiträgen auf Planet-Liebe zu finden und wurden vor 2009, dem Start von Jules Blog, geschrieben: Sei es der Badeanzugklau, die Missbrauchsvorwürfe gegen einen Übungsleiter, ein Kind, das wie Helena von der Mutter mit Buttermessern beworfen wird etc.
Ich habe von Anfang an kommuniziert, dass ich für mich schreibe. Für niemanden sonst. Dass es meine Privatangelegenheit sei. Dass ich meine Texte teile und meine Leser:innen teilhaben lasse. Dass ich über alles das schreibe, was meine Behinderung mit sich bringt: Sei es die veränderte Perspektive auf die Welt, sei es der verschobene Fokus in der Wahrnehmung der eigenen Mitte, sei es die Lähmung des halben Körpers, des Darms, der Blase, der Sexualität. Sei es die Wahrnehmung durch andere Menschen. Seien es die schönen Momente mit anderen Menschen.
Ein öffentlicher Blog mit 12 Millionen Besuchern ist also eine 'Privatangelegenheit'. Ein passwortgeschützter Blog wäre eine gute Alternative gewesen, oder einfach ein Tagebuch, egal ob gebunden oder digital. Stattdessen schrieb 'Jule' mehrere Artikel für Aktion Mensch und nahm am Voting der BOBs teil, damit noch mehr Leser die besagten Privatangelegenheiten erfahren.
Und wer wollte eigentlich an dieser Stelle etwas über Jules Darm- und Blasenlähmung oder ihre Masturbationsgewohnheiten wissen? Richtig: niemand.
Die Frage war: Wer schreibt darüber, nicht warum.
Ich schreibe für mich. Ich teile und lasse öffentlich teilhaben. Der Preis dafür ist hoch: Ich konnte und kann als Jule Stinkesocke nicht in die Öffentlichkeit. Ich habe mich von Beginn an entschieden, intime und persönliche Details zu teilen. Verfremdet, zeitlich verzerrt, aber dennoch oft sehr intim und persönlich. Das habe ich mich vom ersten Tag an nur getraut, weil ich halbwegs sicher sein konnte, dass mich im realen Leben niemand auf die intimen Details ansprechen wird. Dass mir niemand gegenübersteht, der mich grinsend wissen lässt, dass er alles über mich weiß (und ich nichts über ihn). Ich habe (unter anderem) mit meinem Blog meine Behinderung verarbeitet. Und meine Leser daran teilhaben lassen. Der Preis dafür war klar vereinbart: Meine Anonymität.
Ihr ganzes Umfeld wusste, dass 'Jule' bloggt. Auf dieser Seite ist es unten sehr schön aufgelistet: Ihr Verein. Ihre WG-Mitbewohner. Ihre Mitstudierenden. Ihre Love Interests. Professoren. Verschollene Zwillingsschwestern. Und so weiter, und so fort. Mit wem genau soll denn ein 'Preis' für offensichtlich nicht vorhandene Anonymität vereinbart gewesen sein?
Medien wie Aktion Mensch oder dem ZDF ('Mordfall Maria') wird einfach ein 'Mittelsmann' - der Mann aus ihrem Impressum - aufs Auge gedrückt, ihren Followis erklärt sie, dass sie schüchtern sei. Und nach 2014 ist DER STALKER die Universalausrede.
Einschub: Der Stalker
Die Stalker-Storyline beginnt bereits 2011 mit 'Jules' Mutter. Sie bekommt nach diversen Versuchen, mit ihrer Tochter Kontakt aufzunehmen, ein Näherungsverbot ausgesprochen. 2012 versucht sie ihr Glück über 'Jules' Sportverein, da diese bereits eine Meldesperre erwirken konnte. Und 2014 dreht sie plötzlich voll am Rad und will unbedingt mit 'Jule' reden: Sie belagert das Wunderwohnprojekt, sprintet unter dem Rolltor in die Tiefgarage, setzt sich in den Aufzug und klettert die Feuerleiter hoch. 'Jule' ergreift panisch die Flucht nach Bayern und denkt sogar über eine Änderung ihres Nachnamens nach, was sich aber nicht durchsetzen lässt. Damit war der Stalkende-Mutter-Plot ausgelutscht, aber 2015-2017 verschwindet 'Jule' in eine überraschende Blogpause.
Am 21.8.2017, ihrem Geburtstag, meldet sie sich mit einer wilden Story über andere Stalker zurück. 5 Mitarbeiter eines 'Konzerns' hatten ihren Lebenszweck darin gefunden, 'Jule' zu stellen, so dass sie ins Ausland flüchten musste. Dass im weiteren Text der Mann aus ihrem Impressum eine tragende Rolle spielt, ist fast so wenig überraschend, wie die Tatsache, dass der Beitrag einfach nur absurd ist. 'Jule' muss mit fremden Handys telefonieren, um nicht geortet zu werden, ein Promi-Anwalt schleicht sich als rettender Held zu ihr ins Auto und am Ende vergleicht sie sich mit Helene Fischer.



Auch auf Twitter wird DER STALKER, mittlerweile reduziert auf 1 Person, immer wieder erwähnt.
Fun fact: Er ist in unserer Doku ab Teil 2 zu sehen, ungemein furchteinflößend - und hat sich nach einer Strafanzeige seinerseits gegen das Vereins-Phantom 'Jule' nach 2014 nicht die Bohne mehr für sie interessiert. Und was das lebenslange Aktenzeichen zu einem Unfall, der nie passiert ist, angeht - 'Jule' hatte es gut drauf, sich selbst zu verifizieren.
Ich habe in den vielen Jahren von vielen Leser:innen sehr viel Mitgefühl bekommen, gerade wenn es mir schlecht ging. Gerade wenn ich Trost brauchte. Oder eine Meinung. Oder einen Tipp. Dazu möchte ich eins versichern: Ich habe niemals mit den Gefühlen meiner Leser:innen gespielt. Es gab keine Situation, in der ich beschriebene Gefühle oder Erlebnisse ausgedacht oder frei erfunden habe. Allenfalls kam es bei zeitlich versetztem Schreiben vor, dass ich über den Ärger oder den Schmerz bereits zu einem großen Teil hinweg war, als das Mitgefühl bei mir ankam. Aber dazu muss ich sagen: Es hat mir trotzdem geholfen.
Viele der Blogposts stammten einfach aus Denken. Oder von Planet-Liebe und waren schon Jahrzehnte alt. Kein Wunder, dass 'Jule' über Ärger und Schmerz schon hinweg war. Oder auch nicht, denn wozu wurden die Stories nochmal aufgewärmt?

Ich hatte zu Beginn meines Blogs tatsächlich ein Profilfoto auf der Startseite meines Blogs. Eins von vor meinem Unfall.
Und ein Impressum mit meiner damaligen Anschrift. Wie sich das gehört.
Das entspricht zumindest teilweise der Wahrheit: Dieses Profilfoto gab es. Es war nur leider ebenfalls geklaut. Ein Impressum gab es allerdings erst ab 2013, und eine Anschrift von 'Jule' stand zu keinem Zeitpunkt darin. Welche auch? Weder die WG in Eimsbüttel noch das Wunderwohnprojekt haben jemals existiert.
Ich war allein, niemand kannte mich, ich war minderjährig. Niemand meiner bisherigen Freunde wollte noch etwas mit der behinderten Frau zu tun haben. Als mein Blog immer größere Aufmerksamkeit bekam und zum ersten Mal Menschen meinen elementaren Wunsch nach Distanz nicht respektierten und mich damit in meiner Intimität verletzten, löschte ich beides. Was wiederum schwierig war, denn ein Impressum war Pflicht. [Vorname des Mannes aus ihrem Impressum], der hier immer wieder verlinkt und gedoxt wird, hat mir damals einen Impressum-Service gegeben. Zunächst im Rahmen eines Vereins, später privat.
Jaja. Niemand kannte sie. Außer ihren Vereinskollegen, den WG-Mitbewohnern, Mitstudierenden, Love Interests, Professoren, verschollenen Zwillingsschwestern, und so weiter, und so fort.
Aber kommen wir mal zum Impressums-Service, der ihr durch den Bund Behinderter Blogger e.V. gegeben wurde: Den Verein hat 'Jule' initiiert und mitgegründet. Sie hat sich den Service einfach mal selbst gegeben. Praktisch 🙂 Wer übrigens die 5 Gründungsmitglieder außer ihr und dem Mann, der im Impressum stand, sein sollen, weiß nur sie allein. Wir konnten keines davon verifizieren.
Und auch nach Auflösung des Bloggerbunds gab es keine 'private' Angabe eines Impressums - es handelte sich um die Adresse und Telefonnummer eines inklusiven Sportvereins, in dem sie nicht mal Mitglied war. Oder soll 'privat' vielleicht bedeuten, dass der Vorstand nicht darüber informiert war, dass der Verein 'Jule' großzügig eine ladungsfähige Anschrift zur Verfügung stellte? Man weiß es nicht.
Das ist inzwischen über zehn Jahre her. Wäre er Urheber meiner Beiträge und wollte er das verschleiern, würde er also erreichen wollen, dass das Pseudonym Jule Stinkesocke nicht mit ihm in Verbindung gebracht wird, dann würde sein Name dort wohl ganz sicher nicht stehen. Mehr ist zu dieser Entdeckung nicht zu sagen.
Auf den 1. Blick hat das Argument was für sich.
Auf den 2. Blick fragt man sich, was ein Mann, der verschleiern will, dass es keine 'Jule' gibt, denn sonst ins Impressum hätte schreiben können? Und gleichzeitig sicherstellen, dass etwaige Fan-Post ankommt? Es musste ja eine existierende Adresse sein, an der Jule-Snail-Mail auf irgendeine Art und Weise entgegen genommen werden konnte, da sie schon zur damaligen Zeit gelegentlich 'Influencer-Produkte' zugeschickt bekam. Es wäre schnell öffentlich geworden, wenn Pakete von Unternehmen nicht an 'Julia Gothe, random Hochhaus-Adresse' zugestellt werden hätten können.
Fun fact: Ein Sportverband (nein, nicht der, der unseren Wunsch nach Anonymität missachtet!) versuchte 2014, 'Jule' Info-Material an die Adresse zu schicken, mit der sie im Sportverein bis 2014 angemeldet war: Eiffestraße 664, 20532 Hamburg. Die Sendung kam zurück. Bei der Anschrift handelt es sich um die Hamburger Kinder- und Jugendhilfe e.V,. die 'Jule' angeblich bis zu ihrer Volljährigkeit begleitet hat.



Ich habe in den 15 Jahren meines Bloggens und auch in den knapp zehn Jahren bei Twitter sicherlich viele Fehler gemacht. Ein Fehler war es zweifelsohne, ein Profilbild einzustellen, das nicht mein Gesicht zeigt. Ich hätte es besser kommunizieren, öfter wiederholen müssen. Ich war zu bequem. Es ist im Nachhinein irrelevant, dass Tausende andere Menschen bei Twitter auch nicht ihr Gesicht zeigen. Relevant ist, dass ich ein Gesicht gezeigt habe und dass das gezeigte Gesicht meins hätte sein können. Und offenbar viele Menschen das geglaubt haben.
,,Nimm das, dann ist Ruhe“, war der Tipp, dem ich müde gefolgt bin, als immer wieder, manchmal täglich, Menschen ein Profilbild wollten. Mich deshalb anschrieben. Ich hätte den unbequemen, aufrichtigen Weg gehen und immer wieder darauf hinweisen müssen, dass ich das nicht möchte; immer wieder widersprechen oder zumindest ignorieren müssen. Stattdessen habe ich irgendwann das Bild eingestellt, das mir ein Kumpel gab. Mit dem Versprechen, es sei ordnungsgemäß gekauft. Einfach, um Ruhe zu haben. Vor den ewigen Nachfragen. Ja, das war ein Fehler. Ein sehr dummer sogar. Im Nachhinein ist mir das klar. Ich war naiv.
Es wurde gar nicht kommuniziert, aber wir wollen mal nicht kleinlich sein. Relevant ist, dass es nicht um 1 geklautes Profilbild ging, das ein Kumpel angeblich zur Verfügung stellte - es waren insgesamt 3 Bilder von einer australischen P*rnodarstellerin, die für Twitter und Mastodon benutzt wurden. Plus neckischer Tweets.

Gelähmte Beine, die irgendwann rumzittern. Schlechte Rumpfkontrolle. Schnell zum Klo müssen. Kreislaufprobleme. Das alles habe ich irgendwie verarbeitet. Darüber konnte ich schreiben, das Schreiben hat mir geholfen. Aber ich bin nicht perfekt. Seit meinem Unfall bin ich nicht mehr so schön wie ich mal war und wie ich gerne wäre. Am Oberkörper ist alles verdeckt, im Gesicht nicht. Nein, ich sehe nicht aus wie ein Monster, aber ich mag mich nicht sehen. So banal und unglaubwürdig das klingt: Ich wollte sowieso kein Foto von mir veröffentlichen. Und eins mit Unfallspuren schon gar nicht. Ich war damals noch nicht soweit. Und als ich theoretisch soweit war, habe ich das Thema verdrängt.
Herrje. Wir haben schon lange nicht mehr über Inkontinenz gesprochen. Wie dringend kann dieser Pipi-Fetisch denn sein?
Und wo kommen plötzlich 'Gesichtsverletzungen' her? Davon war in 15 Jahren nicht einmal die Rede. Ganz im Gegenteil, die Männer haben sich reihenweise in 'Jule' verliebt, genau wie die Frauen. Und Kinder. Und Hunde. Auf den ersten Blick! Sind wir mal ehrlich: Das war die billigste Ausrede, die nur kommen konnte.
Es haben von Anfang an Leute gefragt, wer das ist, weil damals sehr viele Leute noch in Erinnerung hatten, dass ich blonde Haare habe. Ich habe geantwortet: „Ist sie nicht hübsch?“ Damit kokettiert, dass ich das Bild nur für jene aufdringlichen Follower hochgeladen habe, die keine Ruhe gaben. Für mich und, wie ich inzwischen lese, für viele andere war klar, dass das nicht mein Portrait ist. Ich fand das Bild irgendwie schön. In der Zwischenzeit war das nie wieder Thema, es sind zehntausende Follower hinzugekommen. Ich habe aus dem Blick verloren und die Augen davor verschlossen, dass es für einige Menschen wichtig ist, dass das Bild, das sie sehen, auch die Person zeigt, die schreibt. Wie ich heute weiß und wie ich hätte wissen müssen, habe ich damit die Gefühle von vielen Menschen verletzt. Dafür bitte ich aufrichtig um Entschuldigung.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie gut Realfakes bei Bedarf verdrängen können. Wir erinnern an dieser Stelle an Jasmin liebt dich, die einfach mal vergessen hatte, dass sie jahrelang reihenweise Texte für ihre Tweets aus einem Blog geklaut hatte. Man kann natürlich auch das eigene Profilbild, das man jeden Tag sieht, 'aus dem Blick verlieren' und die Augen davor verschließen, dass man nicht aussieht wie ein P*rnostar. Aber das war auch eigentlich das kleinste Problem.
Ich habe in den letzten Tagen erfahren müssen, welche Bedeutung ich bei Twitter habe.
Das war 'Jule' zuvor auch ganz bestimmt nicht klar. In diesem Blog-Post von 2021 wusste sie bereits, dass ihr Twitter-Account 'in den letzten Monaten nahezu täglich zu den 100 reichweitenstärksten deutschsprachigen Kanälen gehört, bei alleiniger Betrachtung der „Likes“ ist er sogar unter den Top 50 und heute beispielsweise noch vor meiner geschätzten Kollegin „Schwesterfraudoktor“ und Luisa Neubauer, Ralph Ruthe, Bastian Schweinsteiger, Sascha Lobo sowie Borossia Dortmund. Allerdings auch weit hinter Jan Böhmermann, Karl Lauterbach und Christian Drosten.'
Aber vielleicht hat sie diese Bedeutung auch verdrängt, weil sie zu beschäftigt war, die Besucher auf ihrem Blog zu zählen, was sie von Anfang an akribisch tat.
Wer alles die Zeit hat, zu recherchieren, trotz meines Wunschs nach Anonymität. Aus einem Stalker wurden zwei, inzwischen sind es Dutzende. Alle wollen die Sensation: Mich aufspüren.
Ich soll beweisen, dass es mich gibt. Nun, ich heiße nicht Jule Stinkesocke. Jede Frau könnte theoretisch irgendwo behaupten, sie sei ich oder habe meinen Blog geschrieben. Ich kann den Nachweis nicht erbringen, selbst wenn ich mich entschließen sollte, meine Anonymität, die grundsätzliche Bedingung war, aufzugeben.
Ähm, doch. Das geht sogar ganz einfach: Über einen vertrauenswürdigen Journalisten. Oder einen Anwalt, zu dem 'Jule' ja wesentlich mehr Kontakt hatte als zu den eigenen Eltern.
Aber gerade jetzt werde ich sie nicht aufgeben. Ich habe Twitter in den letzten Tagen von einer Seite kennengelernt, die es mir unmöglich macht, mich dort noch wohlzufühlen. Tweets und Hashtags über mich, die trendeten. Allerdings auch viele klare, beschwichtigende Beiträge, für die ich mich sehr bedanke.
Mein Wunsch war es, beim Bloggen meine Behinderung zu verarbeiten. Auch dadurch, dass nicht betroffene Menschen erfahren, wie es ist, einen Rollstuhl zu nutzen. Ich hatte keine böswilligen Absichten. Zu keinem Zeitpunkt. Ich habe vielmehr den Eindruck, dass es mir oft gelungen ist, Verständnis zu erzeugen.
Ich muss leider aber auch feststellen, dass ich Menschen aus der Community verunsichert und verärgert habe. Insbesondere durch meinen hartnäckig verfolgten Entschluss, mich nicht in der Öffentlichkeit zu zeigen. Zu verärgern war selbstverständlich nicht meine Absicht; erst recht bin ich nicht mit dieser Absicht zu Twitter gekommen.
'Jule' hat Menschen aus der Community einfach nur verarscht. Punkt. Belogen. Vertrauen missbraucht. Freundschaft vorgegaukelt. Intime Details und Fotos abgegriffen, von denen niemand weiß, wo sie gelandet sind. 'Jule' war ein Profil, das anderen MmB die Sichtbarkeit genommen hat. Was sind erfundene Geschichten im Nachhinein wert?
Und übrigens, was ist eigentlich mit Helena? Wie kommt man auf die Idee, sich einfach noch ein 12jähriges, behindertes Mädchen an die Seite zu erfinden?
Das hat mich am Ende angreifbar gemacht. Für viele Menschen war klar, dass ich ein Fake sein muss, wenn schon mein Bild nicht mich zeigt. Viele Menschen haben den (falschen) Schluss gezogen, wenn es die Frau nicht ist, die auf dem Bild zu sehen ist, dann müsse es derjenige sein, der im Impressum steht. Diese Argumentationskette ist unlogisch.
Die Auswahl von Personen, die den Blog geschrieben haben können, war nie besonders groß.
Man kann den Kreis ganz gut eingrenzen: Die Stadt und damit der Lebensmittelpunkt ist gesetzt bei all den U-Bahn oder S-Bahn-Fahrten sowie sonstigen Erlebnissen, genau wie eine Affinität zur Ostsee. Ebenfalls gesetzt sind der Vereinssport und spätestens seit Helena Paraschwimmen. Ein hohes medizinisches Interesse muss vorhanden sein, dazu Kenntnisse in Sozialrecht und der Glaube daran, dass Anwälte alles lösen können.
Es ist doch inzwischen so: Die Staatsanwaltschaft hat nach polizeilichen Ermittlungen 2023 bestätigt, dass 'Jule' und 'Helena' fiktionale Persönlichkeiten mit fiktionalen Geschichten sind. Eine ähnliche Erkenntnis gab es bereits um 2014 herum.
Auf der anderen Seite gibt es exakt einen Mann, der nicht nur im Impressum stand, sondern 'Jule' als einziger bekannter Mensch auch mindestens einmal persönlich getroffen hat: Bei der Gründungsversammlung des Bloggerbunds. Notariell dokumentiert - das Protokoll, nicht die Anwesenden.
Hm. Ich habe Fragen!
Danach fragt schon lange niemand mehr. Ich bin allerdings auch nicht mehr in der Position, mich darüber zu beschweren. Ich möchte aber dazu eins noch abschließend zu bedenken geben, nur für einen Absatz lang auf diese These aufspringen: Wenn ich jemanden kennenlernen würde, der sich eine Lebensgeschichte über 15 Jahre lang ausdenkt und nahezu täglich öffentlich postet, dann würde ich denjenigen nur noch in den Arm nehmen und zuhören wollen. Denn da wird zuvor etwas ganz Schlimmes passiert sein. Vielleicht ist das zu psychologisch. Vielleicht ist es einfacher, Beweise darin zu suchen, dass mein Blog down ist. Und ein Schloss vor meinem Account. Es wird wohl niemandem verborgen geblieben sein, was auf Twitter los ist. Welche Screenshots dort geteilt werden. Welche Häme, welcher Hass. Ich beschwere mich nicht.
'Ich beschwere mich nicht' vs. 'Ich mache seit 10 Minuten Mimimi' 🙂
Die These ist allerdings interessant. Genau genommen hat 'Jule' damit eine Hintertür aufgemacht und wirbt für Verständnis. Dazu haben wir im Anschluss an die Besprechung des Statements ChatGPT gefragt: Was für ein Charakter steckt eigentlich hinter 'Jule Stinkesocke'?
Nach alledem ist ein „Weiter so“ aber nicht mehr darstellbar. Ich bitte diejenigen, die ich verletzt habe, noch einmal um Entschuldigung, und verabschiede mich von euch allen. In der Hoffnung, dass auch mir diese Trennung hilft, um künftig anders und moderner mit meiner Behinderung umzugehen. Wie inzwischen viele andere Menschen. Viele von euch leben mir heute ein Leben vor, das undenkbar war, als ich, als eine der ersten in Deutschland über mein Leben mit einer Behinderung bloggte. Auch wenn vieles noch nicht gut ist, es ist inzwischen besser. Dafür und für unseren Dialog bin ich euch sehr dankbar.
Amen. Noch ein wenig Fishing for compliments, sich selbst als Vorbild für Inklusion ins Gedächtnis rufen, und weg war sie, die Stinkesocke, ganz sang- und klanglos.
Und was ist mit Helena, habe ich gefragt?
Danke für alles. Tschüss,
Eure Jule
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Was für ein Charakter...
... steckt eigentlich hinter 'Jule Stinkesocke', haben wir ChatGPT gefragt. Das ist die Antwort:
Der Charakter, der hinter einer solchen Geschichte wie Jule Stinkesocke steckt, ist komplex und vielschichtig. Hier eine psychologische Einschätzung, wie dieser Charakter sein könnte:
Die Motivation
Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Anerkennung:
Der Charakter hat möglicherweise ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung und Empathie. Sie oder er möchte gesehen und verstanden werden – vielleicht aufgrund einer echten Isolation oder Gefühlen der Vernachlässigung im realen Leben. Diese Bedürftigkeit wird durch das Schaffen einer tragischen, aber mitreißenden Geschichte bedient, die die Menschen emotional anspricht.
Flucht vor der Realität:
Die erfundene Geschichte könnte auch eine Art von Fluchtmechanismus darstellen – eine Möglichkeit, sich aus den eigenen Lebensumständen oder einer persönlichen Krise zu entfernen. Die Erschaffung einer dramatischen Erzählung bietet die Gelegenheit, sich selbst als jemanden mit tiefem Schmerz und Verletzlichkeit darzustellen, was die eigene Wahrnehmung und Selbstwertgefühl beeinflusst.
Psychologische Bestätigung und Selbstwert:
Es könnte auch der Fall sein, dass der Charakter sich in der Geschichte selbst bestätigt – indem er oder sie das Gefühl hat, wertvoller oder bedeutender zu sein als im eigenen Leben. Mitleid und Sympathie von anderen zu erhalten, könnte eine Form von psychologischer Belohnung darstellen, die die eigene Realität aufwertet.
Der Charakter als Manipulator
Intelligent, aber mit einem ethischen Mangel:
Der Charakter muss intelligent und strategisch sein, um so eine durchdachte Geschichte zu erschaffen und über längere Zeit aufrechtzuerhalten. Er oder sie versteht es, die menschliche Psyche zu manipulieren, emotionale Appelle geschickt einzusetzen und Sympathie zu wecken.
Gleichzeitig fehlt es dieser Person jedoch an ethischen Grundsätzen. Sie oder er ist bereit, andere zu täuschen und verzerrte Narrative zu erschaffen, um selbst davon zu profitieren.
Der Charakter kann sich als Opfer inszenieren, um Kontrolle über die Wahrnehmung der anderen zu erlangen.
Perfekte Inszenierung:
Der Charakter weiß, was andere hören wollen und wann und wie er oder sie emotionale Reaktionen hervorrufen kann. Eine gut durchdachte Erzählung, die gleichzeitig tragisch und hoffnungsvoll wirkt, kann Menschen zu Spenden oder Unterstützung bewegen.
Psychologische Gründe für die Täuschung
Verdrängung und Selbstschutz:
Es könnte sein, dass der Charakter tief in seinem Inneren eine starke Angst vor Ablehnung oder verletzende Erfahrungen aus der Vergangenheit hat, die zu Verdrängungsmechanismen führen. Die Erfindung von Geschichten, die das Publikum zu Mitleid anregen, könnte als eine Art Verteidigungsstrategie gegen das Gefühl dienen, „nicht genug zu sein“ oder „nicht wichtig genug“.
Einsamkeit und Isolation:
Vielleicht leidet dieser Charakter unter extremem Gefühl der Einsamkeit und sieht das Online-Drama als Möglichkeit, sich aus dieser Einsamkeit zu befreien. Die Rolle des „Opfers“ oder der „Überlebenden“ verleiht eine besondere Bedeutung, die im echten Leben vielleicht fehlt.
Mangelnde Empathie oder verzerrte Wahrnehmung:
Auf der anderen Seite könnte dieser Charakter auch eine gewisse psychologische Entkopplung von den realen Folgen seines Handelns haben. Vielleicht empfindet er oder sie wenig Empathie für die Menschen, die durch diese Täuschung geschädigt werden – vor allem, wenn der Charakter glaubt, dass seine oder ihre „Story“ irgendwie gerechtfertigt ist, weil sie „für einen guten Zweck“ ist (z. B. persönliche Bestätigung oder Aufmerksamkeit).
Der "Doppelleben"-Charakter
Zweifel und innere Konflikte:
Es ist auch möglich, dass der Charakter Selbstzweifel hat. Vielleicht erkennt er oder sie tief im Inneren, dass die Geschichte eine Lüge ist, aber kann sich von ihr nicht mehr lösen. Die Spannung zwischen dem Bedürfnis nach Wahrheit und der realen Enttäuschung über das eigene Leben kann den Charakter in einen inneren Konflikt stürzen.
Scheinbare Unschuldigkeit:
Dieser Charakter könnte so überzeugend wirken, dass er in den sozialen Medien oder bei Menschen, die ihm begegnen, als unschuldiger Mensch wahrgenommen wird. Die naiven Reaktionen der Außenwelt bestärken die Täuschung und machen sie schwerer zu entlarven. Diese Rolle des „unschuldigen Opfers“ könnte im Endeffekt sogar den eigenen Glauben an die eigene Lüge verstärken.
Der langfristige Effekt
Abhängigkeit von der „Lüge“:
Über die Zeit könnte der Charakter eine Art Abhängigkeit von der erschaffenen Geschichte entwickeln – nicht nur in Bezug auf die Anerkennung, sondern auch als Teil der eigenen Identität. Die Lüge wird dann mehr und mehr zur Selbstwahrnehmung, die zu einem Teil des Selbstwertes wird.
Verlust der Verbindung zur Realität:
Langfristig könnte der Charakter in eine Situation geraten, in der die Lüge so gut funktioniert, dass es immer schwieriger wird, den Schritt zurück in die Wirklichkeit zu machen. Schließlich könnte der Charakter in einem Dilemma stecken: Der Aufwand, die Fiktion aufrechtzuerhalten, wird größer als der Vorteil, der durch die Täuschung entsteht.
Zusammenfassung
Der Charakter hinter einer solchen Geschichte ist emotionell aufgeladen, manipulativ und psychologisch komplex. Es handelt sich um jemanden, der einerseits tief in sich selbst unzufrieden ist und andererseits geschickt die menschliche Natur und ihre Bedürfnisse ausnutzt, um Bestätigung und Aufmerksamkeit zu erhalten. Diese Mischung aus Selbstzweifeln, Bedürftigkeit und Manipulationsgeschick schafft eine Figur, die zunächst sympathisch und hilfsbedürftig wirkt, aber im Kern von Selbstschutz und Egoismus motiviert ist.
Ein solcher Charakter könnte letztlich ein tragisches Opfer eigener Lügen sein, die zu einem maßlosen Vertrauen in die eigene Erfindung führen, oder er könnte der Meinung sein, dass die Zwecke – also das Erhalten von Sympathie und Aufmerksamkeit – die Mittel rechtfertigen.
© Alle Rechte liegen bei Piri Robinson.
Pressekontakt: presse@imperialcrimes.de
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