Falsche Identitäten im Internet
Teil 1: Über Realfakes und Catfishing
Vorwort
Die Recherchen zu den beiden bekannten Twitter-Accounts Jule Stinkesocke und Jasminliebtdich würden mittlerweile etwa zwanzig Leitz-Ordner füllen, wenn ich sie denn ausdrucken würde. Beide Fälle haben viele Menschen extrem bewegt und in ihrem Vertrauen erschüttert. Und trotzdem ist das Thema Realfakes immer noch ein Nischenthema, das kaum erforscht bzw. dokumentiert ist und gern als 'unwichtig' und fast noch als 'Kavaliersdelikt' abgetan wird, manchmal auch verniedlicht als 'leichte Verfremdung'. Und immer wieder wird betont, dass der Realfake ja trotzdem 'wichtig' und 'inspirierend' war, was wiederum mich erschüttert.
Long reads, also lange Texte sind am Bildschirm schwer zu lesen, deswegen gleich zu Beginn:
Bekannte Realfakes
It's just so darn easy to be a fraud on the internet.
Erinnern Sie sich? 1999, in einer Ära vor Social Media, nahmen Blogs weltweit Fahrt auf: Durch Anbieter wie LiveJournal, WordPress und Blogspot wurde es technisch sehr einfach, selbst Autor zu sein und seine Gedanken im Internet zu veröffentlichen. Bloggen entsprach dem Zeitgeist, Blogger, das war fast schon so etwas wie Journalist. Blogrolls waren unendlich wichtig, Blogparaden und Verlinkungen sorgten für den Aufbau einer regen Blogger-Community. Durch die Kommentarfunktion konnte eine rege Diskussion entstehen.
limeybean, 2005
England, 2005: Die 18-jährige limeybean, beliebtes Mitglied einer Harry-Potter-Fangemeinde, bloggt auf LiveJournal viel und gern, auch über ihr Privatleben. Eines Tages gibt sie online bekannt, dass bei ihr derselbe seltene und unheilbare Tuberkulosestrang diagnostiziert wurde, an dem bereits ihr Vater und ihr Zwillingsbruder gestorben sind. Während limeybean tapfer mit ihrer Krankheit kämpft, gewinnt sie die Herzen vieler bewundernder, besorgter Leser, die ihr per E-Mail und in Kommentaren im Blog Unterstützung anbieten.
Als limeybean schließlich ihrer Krankheit erliegt und sich die traurige Nachricht in ihrer Bubble über die MySpace-Seite eines Vertrauten verbreitet, folgt eine beispiellose Welle der Trauer, besonders bei Online-Freunden, die Kraft und Inspiration aus ihrem Kampf geschöpft haben. Doch einer ist misstrauisch: ein Medizinstudent. limeybeans Geschichte erscheint ihm nicht wirklich plausibel. Er vergleicht ihre angegebenen Tuberkulose-Symptome mit medizinischer Fachliteratur, kommt zu dem Schluss, dass die Community getäuscht wurde und veröffentlicht die Beweise in einem eigenen Blog. 'I feel like an asshole for rummaging around in what's done, but everyday I see people citing nonsense without the facts', erklärt er, als er damit an die Öffentlichkeit geht. Und muss trotzdem viel Kritik, Hass und Häme einstecken.
Als die Gerüchte über einen vorgetäuschten Tod immer lauter werden, steigt die tote limeybean schließlich ungnädig von ihrer Wolke und veröffentlicht in ihrem Blog eine Nachricht, die diejenigen, die ihr vertraut haben, ziemlich verärgert:
'Ich bitte um Entschuldigung. Damit das klar ist: Ich hatte nie die Absicht, die Dinge so laufen zu lassen. Ich hatte nicht von Anfang an vor, zu sterben, aber ich brauchte einen Ausweg, falls ich jemals gehen wollte. Ich hatte schon immer ein Problem damit, im Internet die Wahrheit zu sagen, um ehrlich zu sein. Nachdem mir klar wurde, welche Wirkung mein Mut in Bezug auf meine Krankheit auf die Leute hatte, habe ich sie als Vehikel benutzt, um zu versuchen, einige der idiotischen Emo-Kids auf LJ dazu zu bringen, sich zusammenzureißen und zu erkennen, dass sie es in Wirklichkeit gar nicht so schlecht haben … die Lüge war es doch wert, oder? Wie schlimm ist eine Lüge, wenn sie hilft?'
Die Kommentatoren sind alles andere als verständnisvoll: 'Heilige Scheiße, mir fehlen die richtigen Worte, um zu beschreiben, was für ein Abschaum du bist!!! Du hast so viele Menschen durch das, was du getan hast, verletzt, du hast deine FREUNDE verletzt! Du bist ein furchtbarer Mensch.'
Es dauert nicht lange, bis limeybean ihren Blog löscht - und endgültig verschwindet. Bis heute.
Ihr Nickname limeybean wird so im Netz zum Pseudonym für einen vorgetäuschten Tod:
Guy: "Where'd my online friend go?!"
Other Guy: "They must be pulling a limeybean."
Guy: "What?!"
Other Guy: "Faking their own death."
Guy: :cries:
Jule Stinkesocke, 2008
Deutschland, 2008: Das Mädchen, das sich an Weihnachten im Forum Planet-Liebe anmeldet und Heiligabend schwerverletzt und ganz allein, ohne Familie und Freunde, im Krankenhaus verbringt, ist 16 Jahre alt und heißt Jule. Sie wurde von einem Auto angefahren, schreibt sie, und ihre Eltern gehen ihr auf den Keks, weil sie keine Geduld mit ihr haben. Als Username im Forum wählt Jule Stinkesocke, den Spitznamen, den sie vom Klinikpersonal bekommt, das sie zuerst 'alter Stinkstiefel' nennt und später dann Stinkesocke, da Stiefel im Bett ja nicht erlaubt sind.
Obwohl Jule im Forum viel über ihren Unfall und die Konsequenzen schreibt, erzählt sie erst sechs Wochen nach ihrem Einstieg, dass sie irreversibel querschnittgelähmt ist. Damit bricht bei Planet-Liebe das Eis: Ihre weiteren Beiträge bekommen nicht nur viele Antworten, sondern auch jede Menge Aufmerksamkeit und Lob für ihren Schreibstil. Daraufhin beschließt sie, einen eigenen Blog zu eröffnen und nennt ihn 'Aus dem Leben einer Stinkesocke'. Er wird im Mai 2009 unter jule-stinkesocke.blogspot.de, ab 2019 unter jule-stinkesocke.de, veröffentlicht und geht von Anfang an ab wie eine Rakete: Im September 2009, kaum 4 Monate später, verzeichnet er täglich bereits zwischen 100 und 150 Besucher.
Jule veröffentlicht sehr viele Beiträge, schreibt über alle Aspekte ihres Lebens mit der Behinderung, auch unschöne wie eine Blasen- und Darmlähmung, Inkontinenz, unkontrolliertes Pupsen und Windeln, über ihren Sport Paratriathlon, den Bruch mit ihrer Familie und neue Freunde, ihre WG, die Schule und erste sexuelle Erfahrungen sowie Masturbation. Das zahlt sich aus: 2012 wird ihr Blog zusammen mit neun anderen für einen deutschen Nutzerpreis der Deutschen Welle, "The BOBs", nominiert und mittels eines Online-Votings im Mai mit 42% aller abgegebenen Stimmen zum besten deutschsprachigen Blog gekürt. Dieser Award bringt nicht nur Ruhm, sondern auch einen Blog-Booster mit bis zu 10.000 Besuchern am Tag.
2012 beginnt Jule zum Sommersemester gemeinsam mit ihrer besten Freundin Marie ein Medizinstudium an der Medizinischen Fakultät der Universität Hamburg. Sie bloggt weiterhin mehrere Male die Woche und hat immer mehr Leser, die sich von ihrer Geschichte inspirieren lassen. Im April 2014 wechselt Jule auf der Flucht vor ihrer stalkenden Mutter mitten im Semester die Universität und zieht zum 1. Mai nach Bayern, um dort ihr Studium fortzusetzen.
Im September 2015 beginnt ohne Vorwarnung eine lange Blogpause und ihre treuen Leser machen sich große Sorgen. Ist Jule etwa verstorben? Erst am 21. August 2017, ihrem 25. Geburtstag, meldet sie sich im Blog zurück und erhebt große Vorwürfe gegen 'Stalker' aus ihrem ehemaligen Sportverein in Hamburg, vor denen sie flüchten musste. Trotzdem kann sie ihr Studium beenden, zieht gemeinsam mit Marie in ein eigenes Haus an die Ostsee und beide übernehmen 2018 gemeinsam die Pflegschaft für ein 12jähriges, behindertes Mädchen mit Cerebralparese: Helena.
Jule entdeckt Twitter für sich und drückt sich immer öfter dort aus, was ihr bis 2023 stolze 70K Follower einbringt, während der Blog zusehend verwaist. Auch die minderjährige Helena hat einen eigenen Twitteraccount mit fast 20K Followern, verstrickt sich mit ihren Tweets aber immer öfter in Widersprüche. Sie scheint nicht zu wissen, in welchem Bundesland sie zur Schule geht und benutzt veraltete Ausdrücke. Einige Follower werden misstrauisch und fangen an, beide Accounts genau zu hinterfragen.
Nachdem Anfang April 2023 in einem Thread ihre ganze Existenz anhand einiger Indizien, u.a. geklaute Profilbilder angezweifelt wird, verfasst Jule ein letztes Statement, löscht ihren Blog, der zu diesem Zeitpunkt etwa 1.120 Beiträge enthält, sowie ihren Twitteraccount als auch den von Helena und verschwindet einfach. Bis heute. Der Hashtag #julestinkesocke ist seitdem zum Pseudonym für einen vermutlich fiktionalen Account geworden.
Gemeinsamkeiten
Eines ist klar: limeybean und Jule Stinkesocke, Bloggerinnen und angeblich junge Frauen, haben ihre Leser über einen längeren Zeitraum massiv getäuscht und das ihnen entgegengebrachte Vertrauen schwer missbraucht. Bei beiden stand ein angebliches Schicksal im Vordergrund, Tuberkulose bei limeybean bzw. die Querschnittlähmung bei Jule, so dass sie auf Mitleid, aber auch Bewunderung für ihren Umgang damit bauen konnten. Sie suchten keine Beziehung, sondern verfolgten andere Zwecke und ließen sich beide ein Hintertürchen offen, um ihre Bühne bei Bedarf zu verlassen: limeybean den Tod, Jule den Stalker. Und hatten am Ende, als die Beweislage erdrückend wurde, nicht den Mut, ihre wahre Identität zu enthüllen, sondern verschwanden nach einer müden Abschlusserklärung einfach im Datendschungel. Damit ließen sie ihre Leser nicht nur mit vielen Zweifeln zurück, sondern auch genauso vielen Mutmaßungen zu ihrer Motivation.
Was bleibt, ist eine Frage: Warum?
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Realfake oder Catfish?
Im deutschen Sprachgebrauch werden Realfake und Catfish gleichgesetzt: Es geht dabei um eine Person, die sich online eine oder mehrere falsche Identitäten sowie ein komplettes fiktionales Leben aufbaut und mit anderen kommuniziert. Im Gegensatz zu einem Love Scam geht es dabei nicht immer um Geld.
Ich sehe mittlerweile einen Unterschied zwischen den beiden Begriffen und verorte einen Catfish analog zur gleichnamigen MTV-Serie immer im Bereich Romance Scam: Der Fokus liegt auf dem Aufbau einer romantischen Beziehung, während andere Realfakes aus meiner Sicht eher in Richtung Grooming (im Sinne von Vertrauensgewinnung für eigene Zwecke) anzusiedeln sind.
Realfake
Der Begriff Realfake wurde in Deutschland durch die Hamburgerin Victoria Schwartz geprägt, auch wenn sie nach meiner Definition auf einen Catfish hereingefallen ist, da sie sich 2013 im Netz in einen Mann verliebt hat, mit ihm eine Beziehung eingegangen ist und erst nach einem Jahr herausgefunden hat, dass 'Kai' gar nicht existiert. Long story short: Er war in Wirklichkeit eine Frau. Viktoria hat daraufhin die Website realfakes aufgebaut und informiert darüber, mit welchen Methoden Realfakes arbeiten, was Betroffene und deren Angehörige/Freunde tun können, wie man sich schützen kann und welche leicht durchführbaren Recherchemöglichkeiten es gibt.
Ich unterscheide mittlerweile fünf unterschiedliche Typen von Realfakes nach der Motivation.
Realfakes
- ► Catfishing
- ► zu Marketingzwecken (Buchpromotion etc.)
- ► mit MSI (Münchhausen-Syndrom im Internet)
- ► Scam (Geld oder andere materielle Gefälligkeiten)
- ► ohne offensichtlich erkennbare Motivation
Bree, das Lonely Girl, 2006
Hi guys! so this is my first video blog, I’ve been watching for a while and I really like some of you guys on here.
Bree
USA, 2006: Die 16jährige Bree veröffentlicht unter dem Pseudonym Lonelygirl15 ein Videoblog, in dem sie aus ihrem Leben erzählt, von den strenggläubigen Eltern, die sie zuhause unterrichten, ihr nur selten erlauben, das Haus zu verlassen und von ihrem besten Freund Daniel. Die hübsche, einsame Bree wird schnell zum Star von YouTube, ihre Videos werden jede Woche hunderttausendfach abgerufen - und immer bizarrer: Sie wird für ein mysteriöses Ritual der eigenartigen Glaubensgemeinschaft ihrer Eltern ausgewählt, weigert sich jedoch, an diesem und der damit zusammenhängenden ‚Vorbereitung‘ teilzunehmen, die eine spezielle Diät und die Einnahme von ‚Medikamenten‘ umfasst.
Doch mit der Zeit mehren sich Zweifel an der Echtheit des Teenagers, der vielen Zusehern nicht ganz authentisch vorkommt. Und nach vier Monaten, 30 Videoclips und vielen Offenbarungen kommt für ihre Fans die Ernüchterung: Bree existiert nicht. Ein junger Mann, Sohn eines Journalisten, findet das alte myspace-Profil der 19jährigen Schauspielerin Jessica Lee Rose und nach einem Interview mit der "LA Times" kommt die ganze Wahrheit ans Licht: Rose wurde von drei jungen Filmemachern angeheuert, um eine geskriptete Web-Soap erfolgreich zu lancieren. Lonelygirl15 war einfach ein Marketing-Realfake. Die Show ging trotz des Reveals bis 2007 weiter, ihre Videos sind bis heute bei Youtube zu finden.
Jeanette Navarro, 2008
Everyone felt for me. Everyone was very sympathetic. It felt wonderful.
Jeanette
Philippinen, 2008: Jeanette Navarro hat eine seltene Autoimmunerkrankung und meldet sich in einem großen Online-Forum an, um sich mit Leidensgenossen auszutauschen. Sie bekommt dort so viel Zuwendung, dass sie süchtig danach wird. Aus Angst, diese Aufmerksamkeit wieder zu verlieren, erfindet sie immer weitere Auswüchse ihrer Krankheit und legt sich schließlich fünf Alter Egos zu, die ebenfalls krank sind und dafür sorgen, dass der Fokus im Forum immer auf ihr bleibt. Zwei dieser Personas lässt sie einen dramatischen Tod sterben und eine andere verkündet schließlich, dass sie selbst in ein Koma gefallen sei.
Nach sieben Monaten belasten Jeanette diese Lügen so sehr, dass sie im Forum eine lange Beichte ablegt. Sie leidet am Münchhausen-Syndrom im Internet (MSI), einer psychischen Störung, bei der eine virtuelle Plattform benutzt wird, um Mangel an Liebe, Sympathie und Mitgefühl im realen Leben auszugleichen.
Susan Banks, 2015
USA, 2015: Eine junge, gehörlose, muslimische, queere, behinderte Frau namens Susan Banks taucht in der Gaming-Szene auf und setzt sich für die Barrierefreiheit in Games für Gehörlose und Schwerhörige ein. Sie hat bereits ein bewegtes Leben hinter sich und wird zu einer der prominentesten Aktivistinnen der Community für Barrierefreiheit, gibt viele (ausschließlich schriftliche) Interviews zum Thema Behinderung und Gaming. 2019 gibt ihr Partner Coty Craven, ein Trans-Mann, angeblich ebenfalls gehörlos und von diversen Erkrankungen betroffen, ihren tragischen Tod bekannt.
Coty hat in den folgenden Jahren zwei weitere Partnerinnen, beide gehörlos, PoC und behindert. Diese verschwinden einfach nach einiger Zeit und werden von ihm nicht mehr erwähnt. Der Journalist Grant Stoner deckt schließlich in einem Artikel auf, dass Susan und die anderen Frauen nie existiert haben.
Auch Susan Banks (mehr in diesem Blog-Post) steht für einen typischen Fall von MSI, das Vortäuschen von Erkrankungen und gesundheitsbezogenen schweren Schicksalsschlägen per Internet, um Aufmerksamkeit und Mitleid zu erlangen.
Witwer Lars, 2020
Spende, vertrau uns und schick dem Kerl Blumen. Spende nicht, vertrau nicht und lass ihn in Ruhe. Verlieren kann dabei keiner. Simple as that.
Mel
Deutschland, 21.5.2020: Lars meldet sich als @alone_lars auf Twitter an und schreibt einen mittlerweile legendären ersten Tweet, postet dazu ein Bild von sich mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm.
Vorgestern ist sie gestorben. Nun bin ich allein mit Emilia. Die Beerdigung finanziell eine Mammutaufgabe ohne Aufträge in den letzten Wochen. Die Welt steht still. In aller Hinsicht. #meinerstertweet
Nur wenige Stunden später rufen zwei bekannte Twitterer und Großaccounts, Mark und Mel, eine Spendenaktion für ihn ins Leben:
Uns erreichen immer wieder Bitten, etwas zu retweeten, uns anzusehen, ggf. zu helfen.
Das ist nicht leicht. Verständlich, dass man unsere Reichweite nutzen möchte! Aber ein Fake und uns glaubt niemand mehr. Oder 50 Aufrufe am Tag und uns hilft niemand mehr.
Ich habe mit Lars gesprochen. Ich mag das nicht, komische Fragen zu stellen. Aber ich habe es getan und Lars (der sich von sich aus gar nicht bei mir gemeldet hat / selbst keinen Aufruf um Hilfe gestartet hat / dem das auch gerade etwas unangenehm ist) war bereit, mir Auskunft zu geben.
Letztlich funktioniert das hier ohnehin nur über Vertrauen.
Daher: Wir würden gerne helfen. Falls sich jemand beteiligen möchte (ich mag euch wirklich nicht überstrapazieren!), es läuft über mein Paypal (da kann ich das transparent machen).
https://x.com/markmueller1979/status/1263578925462106112
Viele Menschen spenden bereitwillig, die Welle der Hilfsbereitschaft ist riesig. Wenige äußern Zweifel, die von Mark und Mel weggewischt werden: Sie hätten das geprüft, Nachweise bekommen und man müsse ihnen eben vertrauen.
Es ist eine schwierige Situation: Lars, neu auf Twitter, anonym, gleich im ersten Tweet eine tragische Geschichte mit dem Hinweis auf eine unverschuldete finanzielle Notlage. Da gehen die Alarmglocken an. Aber kann man aus reinem Instinkt oder einem Bauchgefühl heraus die Authentizität eines jungen Vaters, der gerade die Frau verloren hat, infrage stellen, ohne sich gleichzeitig selbst als schlechten Menschen zu outen? Oder müssen Mitgefühl und das Vertrauen in Mark und Mel überwiegen?
Aufgrund der Zweifel möchte Lars die finanzielle Hilfe nun nicht mehr annehmen, kann aber von Mark schließlich doch dazu überredet werden. Die Menschen, die sich mehr Transparenz, zumindest eine Traueranzeige oder gar die Rechnung vom Bestatter gewünscht haben, werden als pietätlose Neider, Hetzer und Trolle, missgünstige Idioten, empathielose Gesäßviolinen usw. betitelt, während die guten Seelen Mark und Mel für ihre schnelle, selbstlose Spendenaktion gefeiert werden.
In kaum 24 Stunden sind ganze 7.500€ für den Witwer Lars zusammengekommen, sein Account hat ab diesem Zeitpunkt ein Schloss. Er bekommt viel Zuspruch, Anteilnahme und gute Ratschläge, allerdings lassen sich einige leichte Inkonsistenzen beobachten.
Eine Katze namens Fluffles und Menschen, die genauer hinsehen, führen schließlich zum Reveal: Lars, der Witwer, existiert nicht. Er postet Mitte Juni ein Bild seiner Katze, das aber bereits 2019 von seiner angeblich verstorbenen Frau geteilt wurde, die immer noch auf ihrem Account aktiv ist. Sie gibt schnell zu, dass sie Lars erfunden und Mark mit einer gefälschten Sterbeurkunde getäuscht hat, um an Geld zu kommen. Dass die Sterbeurkunde an einem Feiertag ausgestellt ist, fällt ihm nicht auf.
Mel gibt ein schmallippiges Statement ab, Mark geht zur BILD und erzählt die ganze Geschichte aus seiner Sicht. Das Geld zahlt er den Spendern aus eigener Tasche zurück und erstattet am 19.6.2020 Anzeige. Erst am 25.7.2024 löst er auf Nachfrage auf, was aus der Anzeige wurde.
Das ist ganz spannend: Nach Ewigkeiten kam Post, dass das Verfahren eingestellt wurde, auch schon Jahre her. Glaub irgendwie weil ich ihr ja proaktiv das Geld angeboten / gegeben habe. Hab mich aber auch nie tiefer damit beschäftigt oder weiter verfolgt.
https://x.com/markmueller1979/status/1816478452138004761
Die Frau hinter 'Witwer Lars' hat schon früher versucht, über eine angebliche Krebserkrankung ihrer Tochter an Spenden zu kommen und über den Aufruf eines gefakten Drittaccounts an einen Kühlschrank. 2021 ist sie kurzfristig unter dem neuen Pseudonym Mettschnäuzchen zurück, um Geld für die Beerdigung ihres erwachsenen Sohnes zu sammeln. Was an all diesen Geschichten wahr ist, weiß nur sie selbst. Der Hashtag #larsgate steht jedoch bis heute für den Scam eines Realfakes.
Jule Stinkesocke ist nach wie vor der größte Realfake ohne offensichtlich erkennbare Motivation in Deutschland: 15 Jahre lang wurde nicht nur eine fiktionale Person, sondern dazu ein ganzes Umfeld und ein ereignisreiches Leben, das den meisten Menschen echt erschien, erschaffen. Ging es um Geld? Auch wenn es Bemühungen gab, über einen gegründeten Verein Spenden einzusammeln und 2020 eine Spendenaktion für das Auto eines 'Freundes' von Jule lanciert wurde - es war mit Sicherheit nicht die anfängliche Intention. Jule ist in dieser Hinsicht einzigartig und man kann an diesem Fall genau die Mechanismen eines erfolgreichen Realfakes nachvollziehen - und im Nachhinein auch alle Red Flags, die eigentlich hätten auffallen müssen.
Catfish
Im Jahr 2010 wurde der Dokumentarfilm Catfish von Ariel Schulman ein großer Erfolg, da er sich mit einem Thema beschäftigte, das bislang nur eine Randerscheinung im Internet war und wurde so zum Namensgeber für das Phänomen.
„Catfish“ bezeichnet im Englischen ursprünglich den Fisch Katzenwels, darüber hinaus hat er die Bedeutung eines Betrügers angenommen, der mit einem gefälschten Internetprofil auftritt; dieses falsche Profil wird auch als Sockenpuppe bezeichnet.
Diese Bedeutung geht auf eine Anekdote zurück, die der Ehemann der Betrügerin im ursprünglichen Dokumentarfilm erzählt. Angeblich wurde lebender Kabeljau in großen Fischtanks von Kanada nach China verschifft. Man stellte fest, dass die Fische sich auf der langen Reise träge verhielten und ihr Fleisch ungenießbar wurde, bis man einen einzigen Katzenwels mit in den Tank gab. Dieser scheuchte den Kabeljau immer wieder auf und hielt ihn so fit. Der Ehemann, der selbst immer wieder von seiner Frau mit fantastischen Geschichten getäuscht wurde, vergleicht diese mit dem Katzenwels in der Geschichte.
- Wikipedia
Der New Yorker Fotograf Nev Schulman wurde via My Space von Abby, einer Achtjährigen aus dem ländlichen Michigan, kontaktiert, die ihn um Erlaubnis bat, eine seiner Fotografien abzuzeichnen. Nachdem er ein bemerkenswert schönes Bild von ihr erhielt, wollte er mehr über das Mädchen erfahren und es entwickelte sich eine virtuelle Freundschaft mit Abby und deren Familie.
Die Beziehung erhielt eine ganz neue Dimension, als Nev eine Facebook-Romanze mit Megan, Abbys älterer Schwester, begann, die ihren Lebensunterhalt als Musikerin und Model verdiente. Nev wollte sie unbedingt kennenlernen und machte sich mit Freunden zu einem unvergesslichen Road Trip auf. Spoiler: Dieser endete mit einem überraschenden Catfish-Twist.
Catfish - Documentary 2010 [FULL HD]
Kai, Jasmin und Matthias
Manchmal kam ich mir vor wie in einem Experiment eines Psychologen, der testen will, wie man Frauen manipulieren kann.
Viktoria Schwartz
In Deutschland gibt es neben 'Kai', der Viktoria Schwartz erfolgreich über ein Jahr lang gecatfisht hat, noch weitere Fälle mit ähnlicher Dimension: Denise Fritsch verliebte sich Ende 2016 in eine Mikrobiologin namens 'Jasmin Nicoletta Goldmann' und fand erst ein dreiviertel Jahr später heraus, dass diese Frau nicht existiert. Als Denise sie mit ihren Recherchen konfontierte, 'verstarb' Jasmin und es ist bis heute nicht bekannt, wer sich hinter diesem Catfish verbarg.
Auch Heike hat sich 2015 über das Internet in 'Matthias' verliebt und jahrelang Gefühle in eine manipulative Beziehung gesteckt. Obwohl sie am Ende ein Geständnis ihres Catfish bekam, der angeblich eine Frau ist, die sich wünscht, ein Mann zu sein, weiß sie bis heute nicht, wer wirklich dahintersteckt.
Studien
Warum wird ein Mensch zum Catfish?
Es gibt nur wenig valide Untersuchungen zum Thema Catfish. Zu Realfakes, also Menschen, die nicht auf eine romantische Beziehung aus sind, konnte ich bislang so gut wie überhaupt nichts finden.
In der Studie 'Catching the catfish: Exploring gender and the Dark Tetrad of personality as predictors of catfishing perpetration' kamen Cassandra Lauder und Evita March nach Auswertung der Befragung von 664 Teilnehmern im Jahr 2023 zu dem Ergebnis, dass Menschen, die Catfishing betreiben, psychopathische Züge, einen Hang zu Sadismus und einen hohen Grad von Narzissmus aufweisen, also „dunkle“ Persönlichkeitsmerkmale, die zur Dunklen Tetrade gehören. Insbesondere Sadismus war ein sehr starker Prädiktor für Catfishing-Verhaltensweisen.
Die Dunkle Triade oder auch Dunkler Dreiklang (englisch Dark Triad) bezeichnet die Persönlichkeitsmerkmale von Narzissmus, Machiavellismus und subklinischer Psychopathie (also Soziopathie) und ihre Zusammenhänge. Das Konzept wurde von den kanadischen Psychologen Delroy L. Paulhus und Kevin M. Williams im Jahr 2002 geprägt. Nach der Dunklen Triade wurde in der Psychologie als Begriffsableitung zur weiteren Differenzierung auch der Begriff Dunkle Tetrade eingeführt, unter dem man vier gesellschaftlich aversive Eigenschaften der Persönlichkeit versteht: Narzissmus, Machiavellismus, Psychopathie, und Sadismus. Diese stellen keine klinisch relevante Persönlichkeitsstörungen dar, sondern Persönlichkeitseigenschaften, die in jedem von uns ein Stück weit vorkommen.
Außerdem stellten Lauder und March in ihrer Studie fest, dass Männer häufiger catfishen als Frauen. Victoria Schwartz hat eine andere Beobachtung gemacht: Sie glaubt, dass ein Großteil der Realfakes Frauen sind, da diese stärker als Männer dazu neigen, Parallelwelten zu suchen. Eine Forschungsgrundlage gibt es dazu nicht. Ihr Catfish 'Kai' entpuppte sich bei Recherchen als 'Kirsten' und erklärte sich in einem Interview, das nicht online, sondern offline in den USA stattfand:
»Kai bin ich in Mannform«, sagt Kirsten. »Kai ist der Mann, der ich gerne wäre. Ich fühle mich oft mehr als Mann denn als Frau. Und ich würde lieber mit einer Frau zusammenleben«, sagt sie. »Aber das ist in den Südstaaten ein Problem.« Es ist eine schlüssige Erklärung, die einen trotzdem ratlos zurücklässt: Die homophoben Südstaaten zwingen eine lesbische Frau, ins Internet zu fliehen und andere Frauen in ein Netz aus Lügen zu verwickeln?
Warum, fragt man sie, hat sie nicht nach gleichgesinnten Frauen gesucht, sondern heterosexuelle Frauen verführt und manipuliert? »Das war mir zu riskant«, antwortet sie. Kirsten hat vermutlich psychische Probleme. Sicher aber hat sie ein sehr schlechtes Gedächtnis: An bestimmte Mails, die sie als »Kai« geschrieben hatte, erinnert sie sich auch nicht, wenn man ihr Ausdrucke vorlegt. Für sie scheint alles sehr weit weg zu sein. Dass die Gefühle echter Menschen verletzt wurden, dass Taten im Netz Konsequenzen haben, scheint ihr nicht klar zu sein. Ihre Entschuldigung klingt fast so, als bedaure sie vor allem sich selbst: »Ja, es tut mir leid. Also, ich würde mir wünschen, dass ich hätte ich sein können.«
Das Internet ist für Kirsten und andere Catfishes ein Spielbrett. Die Frauen, die mit Kai in Kontakt waren, fühlten sich nach ihren Beziehungen mit ihnen dann auch weggeschmissen »wie kaputtes Spielzeug«, wie eine sagt. »Jeder Mensch ist ersetzbar«, schrieb Kirsten einer der Frauen zum Abschied. Sie sieht darin ihre eigene Logik: »Würde sie wirklich wissen wollen, wer ich bin? Oder lieber einfach sagen: Das war ein Arschloch?«
- NEON [im Zitat gestrafft und auf 'Kirsten' vereinfacht.]
Catfish Kirsten ist mit diesem Interview eine löbliche Ausnahme, vielleicht liegt es auch an ihrem Leben in den USA. Hierzulande werden Realfakes nach der Aufdeckung, dem sogenannten Reveal, generell sehr ungesprächig und streiten alles ab.
Kriminalpsychologin Lydia Benecke nimmt an, „dass also diese Frauen, die ja offensichtlich viele Probleme mit sich selbst und ihrem Gefühlsleben und ihrer Identität haben, dass die dann über diese Kontrolle im Internet und diese Art der Traumbeziehung noch viel stärker alle Bedürfnisse befriedigen, die jetzt ein normaler Mensch nicht in einer Traumwelt befriedigen würde. Sondern der normale Mensch, der will natürlich irgendwann auch wieder in seinem echten Leben sein und das will der Realfake halt auf gar keinen Fall. Der mag sein echtes Leben eigentlich nämlich gar nicht und will am liebsten die ganze Zeit nur in der Traumwelt leben.“
- Deutschlandfunk Kultur
Weitere Ergebnisse zur Motivation hat eine Studie der University of Queensland gebracht, die 2018 immerhin über zwei Dutzend Menschen gefunden hatte, die zugaben, ein Catfish gewesen zu sein. 41% der online Befragten gaben Einsamkeit als Grund an, einige auch eine einsame Kindheit und anhaltende Probleme mit sozialen Kontakten. Andere Gründe waren Unzufriedenheit mit der eigenen körperlichen Erscheinung, Probleme mit dem Selbstwertgefühl, ihrer Sexualität oder Geschlechtsidentität. Mehr als zwei Drittel hatten den Wunsch, auf diese Weise ihren Unsicherheiten zu entkommen. Viele berichteten von Schuldgefühlen und Selbstverachtung im Zusammenhang mit ihrem Verhalten als Catfish.
Mehr als ein Drittel der Teilnehmer äußerte den Wunsch, sich ihren 'Opfern' gegenüber zu outen und reinen Tisch zu machen, einige hatten danach auch weiterhin eine Beziehung zu ihnen. Etwas überraschend ist, dass etwa ein Viertel der Befragten angab, mit dem Catfishing aus praktischen Gründen oder aufgrund äußerer Umstände begonnen zu haben, zum Beispiel um Altersbegrenzungen im Netz zu umgehen.
In der Studie 'World wide web of lies: Personality and online deception' von Jennifer McArthur, Zoë Dunsworth und Marguerite Ternes (2024) wird Machiavellismus als ein wiederkehrender Prädiktor für verschiedene Formen des identitätsbasierten Onlinebetrugs genannt.
Machiavellismus wird in Anlehnung an die im Werk Il Principe skizzierten Eigenschaften auch als Persönlichkeitsmerkmal aufgefasst. Vier Facetten bestimmen dieses:
- relativ geringe affektive Beteiligung bei interpersonellen Beziehungen,
- geringe Bindung an konventionelle Moralvorstellungen (Moral),
- Realitätsangepasstheit und
- geringe ideologische Bindung.
Die Operationalisierung geht auf Christie und Geis 1970 zurück.Machiavellismus ist auch ein Merkmal bzw. ein Typ der sogenannten Dunklen Triade und Dunklen Tetrade.
- Wikipedia
Nach dieser Studie ist vor allem Machiavellismus ein wiederkehrender Prädiktor für verschiedene Formen von betrügerischen Online-Handlungen. Dies deutet darauf hin, dass die Neigung zu Identitätsbetrug im Netz für Realfakes eher ein kalkuliertes Unterfangen als eine impulsive Handlung oder ein Mittel zur Kompensation eines geringen Selbstwerts sein könnte.
ℹ️ Linkbox: Studien zum Phänomen Catfish
► 'World wide web of lies: Personality and online deception', Jennifer McArthur, Zoë Dunsworth und Marguerite Ternes, 2024
► 'Catching the catfish: Exploring gender and the Dark Tetrad of personality as predictors of catfishing perpetration', Cassandra Lauder und Evita March, 2023
► Studie der University of Queensland, 2018
📖 Lesenswert
In Real Life: Love, Lies & Identity in the Digital Age
Nev Schulman
[Anzeige*] If there's anyone who knows about the darker side of online dating, it's Nev Schulman. The 29-year-old rose to fame after his documentary Catfish, about an online flirtation of his which turned sour, became a breakout hit. He followed it up with a series on MTV which followed similar stories of digital deception across America.
What the Fake!
Etrit Asllani
[Anzeige*] Täglich prasseln mehr Informationen auf uns ein als je zuvor in der Menschheitsgeschichte. Darin verstecken sich eine Menge Falschmeldungen: Verschlucken wir im Schlaf wirklich zwanzig Spinnen pro Jahr? Und kann der Oberarm wirklich durch eine Impfung magnetisch werden? Ob sie bewusst gestreut oder durch Missverständnisse entstanden sind, Fake Facts, die einmal online gegangen sind, lassen sich so schnell nicht wieder aus der Welt schaffen.
Reveal
Realfake, willst du ewig leben?
Viele Realfakes verschwinden einfach von selbst und das ist ganz natürlich so: Auch das Leben der Person, die sich eine fiktionale Online-Identität geschaffen hat, verändert sich im Laufe der Zeit. Wenn sich eine neue, positive Lebenssituation ergibt wie zum Beispiel eine befriedigende Beziehung, Heirat, Kinder oder eine gute berufliche Position, kann die Motivation, einen Fake-Account zu betreiben und das eigene Interesse daran mehr und mehr schwinden. Manchmal werden Realfakes auch nur zu Marketingzwecken aufgezogen, nutzen Social Media als ihre Bühne und laufen nach einem bestimmten Zeitraum einfach aus.
Realfakes können ihre erfundene Persona über Jahre hinweg aufrecht erhalten. Grund dafür ist ein Vertrauensvorschuss, den auch völlig Fremde im Internet bekommen. Die meisten Menschen gehen erstmal davon aus, dass Online-Bekanntschaften, auch wenn man sie nur auf Internet-Plattformen liest bzw. mit ihnen kommuniziert, authentisch und ehrlich sind. Je länger ein Realfake agieren kann, desto mehr wächst auch das Vertrauen in ihn. Und je größer die vertrauensvolle Bubble beispielsweise in den sozialen Medien ist, desto schwieriger wird es, an ihm zu zweifeln, ohne gleichzeitig den Unmut der ganzen Followerschaft auf sich zu ziehen.
Einige Realfakes ziehen trotz lauter und kontinierlicher Zweifel so lange durch, bis es einen Reveal gibt: eine Konfrontation mit den geballten Unstimmigkeiten oder eine öffentliche Demaskierung. Denn ganz egal, wie gut eine Kunstfigur gemacht ist und wie sicher sich die Person dahinter fühlt: Irgendwann gibt es nicht nur Zweifel, sondern eine ganze Reihe an kleinen Indizien, die belegen, dass der Realfake mit großer Wahrscheinlichkeit nicht existiert. Wenn so ein Reveal glaubhaft vorgetragen wird oder auf Social Media genug Reichweite hat, fällt auch hier der letzte Vorhang.
Was danach passiert
Die Causa Jule Stinkesocke wurde von vielen Medien aufgegriffen, u.a. BILD, Tagesspiegel, ZDF, t-online, SZ, doch danach passierte von Seiten der Journalisten, die zwar darüber geschrieben, aber im Grunde nur den Twitter-Thread nacherzählt haben, einfach nichts mehr: Kein Follow-Up, keine weitere Nachforschungen. Warum?
Bereits 2018 wurde ein Twitteraccount namens Vicky Bornemann (@SpeedleDum) enttarnt. Dieser Realfake war ab 2011 ganze 7 Jahre lang aktiv in den sozialen Medien unterwegs und tauchte nach dem Reveal einfach ab. Es gab einen Bericht auf t-online und danach kam ebenfalls nichts mehr. Warum?
Recherchen zu Realfakes nehmen unendlich viel Zeit in Anspruch. Selbst wenn schnell klar wird, wer dahinter steckt, und das ist leider nur selten der Fall: Diese Person hat mit Sicherheit kein Verlangen dazu, sich öffentlich dazu zu bekennen, schon allein deswegen, weil es kein gutes Licht auf sie wirft. Und es ist genauso unendlich zeitaufwendig und schwer, Opfer von Realfakes zu finden, die auch noch bereit sind, darüber zu reden: Viele Opfer leiden unter dem Vertrauensmissbrauch, sind verletzt, empfinden Scham und zweifeln an ihrer Menschenkenntnis, manchmal benötigen sie sogar psychologische Hilfe. Sie fühlen sich ausgenutzt, da sie viel Zeit und Mitgefühl in den Kontakt mit dem Realfake investiert haben und am Ende schwer enttäuscht wurden.
Diese Zeit für Gespräche, Interviews und Recherchen bekommt kein angestellter Journalist auch nur im Mindesten bezahlt. Man kann sowas nur dann als persönliches Projekt betreiben, wenn man wirklich Interesse daran und Ausdauer hat. Ich bin inzwischen zudem davon überzeugt: Das geht nicht alleine, sondern nur im Team. Ohne die Menschen, die mit mir zusammen ergebnisoffen und multiperspektivisch jedem noch so kleinen Hinweis nachgehen, würde ich nicht weit kommen und an irgendeinem Punkt in eine Sackgasse geraten.
Und, ich beziehe mich jetzt auf die oben zitierten Studien: Es ist immer wahrscheinlich, dass hinter einem Realfake ein Psychopath steckt, und es ist wesentlich einfacher, eine solche Geschichte fallen zu lassen, als sich über einen langen Zeitraum damit zu beschäftigen. Die Erkenntnisse, die man im Laufe der Zeit gewinnt, sind leider oft verstörend.
Ein weiteres Problem ist die rechtliche Seite: Zum einen ist es nicht grundsätzlich strafbar, ein Realfake zu sein, auch wenn es strafrechtlich relevante Aspekte wie Cybergrooming oder Urheberrechtsverletzungen geben kann, zum anderen gibt es in Deutschland Rechte, die die Person dahinter schützen. Auch wenn es im Optimalfall offizielle Ermittlungen gibt, finden diese nicht von heute auf morgen statt, sondern eher von morgen auf in drölfzig Monaten.
Beweise und Indizien
Das iSt aLlEs kEiN BeWeIs
Kann man beweisen, dass eine Person nicht existiert? Oder kann man nur beweisen, dass eine Person existiert?
Ironischerweise hat die Aufarbeitung eines Realfakes Ähnlichkeiten mit einem Mordprozess, der nur auf einer Indizienkette beruht: Einen ultimativen Beweis wird es in beiden Fällen leider kaum geben. Man kann nur einen Stein auf den anderen legen. Denn eine komplette Anonymität ist im Internet nicht gegeben, auch wenn man sich noch so sehr bemüht: Es gibt immer kleine Spuren, die zu der Person dahinter führen, zum Beispiel um Interessensgebiete oder die Örtlichkeit einzugrenzen.
Bei fundierten Recherchen kommen auch moderne Möglichkeiten wie KI-gestützte Bildvergleiche, Auswertung von Tweet-Daten und IP-Adressen oder forensisch-linguistische Gutachten zum Einsatz. Und modern bedeutet: Vor 10 Jahren war das alles noch nicht in dieser Form möglich.
Joni, home alone
Ich hab mich oft gefragt, ob es besser gewesen wäre, wenn ich an diesem Montag im April nicht zufällig Dienst bei der Zeitung gehabt hätte. Dann hätte ich Joni nie kennengelernt.
Christiane Lutz
Einer der wenigen Fälle, bei dem ein RealFake, sein Agieren, Hintergründe und Recherchen gut nachvollziehbar in einem Podcast aufbereitet wurden, ist das Rätsel um das Mädchen Joni. Dabei nehmen die aufwendigen Nachforschungen einen großen Teil des Beitrags ein.
Während der Pandemie hilft die Journalistin Christiane Lutz in der Kinderredaktion der Süddeutschen Zeitung aus und bekommt eine berührende Mail von der 12-jährigen Joni. Daraus entwickelt sich eine virtuelle Brieffreundschaft. Das Mädchen ist Autistin und Mutistin, hat ihre Mutter sterben sehen und lebt seitdem allein mit Pflegekräften. Sie scheint durch alle Netze zu fallen, wurde sexuell missbraucht und verletzt sich. Niemand scheint sich um sie zu kümmern, bis auf die Professorin Eva Graf, die Joni aber nur aus einem Trauerforum kennt. Christiane Lutz will helfen, aber ihre Zweifel wachsen immer mehr: Existiert das Mädchen überhaupt?
Aus der monatelangen Suche nach dem Kind ist der 6-teilige Podcast 'Wer ist Joni?' entstanden. Da nur die erste Folge kostenlos zu hören ist, kann ich den Ausgang der spannenden Recherchen leider nicht verraten, nur eins: Sie geben einen tiefen Einblick, was für ein riesiger Aufwand es ist, einen angenommenen RealFake zu verfolgen. Es geht um alle möglichen digitalen Recherchen, unzählige Gespräche, den Kontakt mit Ermittlungsbehörden, Sprachforensiker, Bilder aus Überwachungskameras - und am Ende ist doch alles wieder anders.
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Was kann ich im Internet zeigen und was besser nicht? Darf ich alles glauben, was ich online sehe oder lese? Wie gehe ich mit Gewaltvideos um? Und was tue ich, wenn mich jemand im Netz bedrängt?
To be continued
Das Thema Realfakes ist damit noch lange nicht abgehandelt: In den nächsten Teilen geht es um Red Flags, an denen man erkennen kann, dass die Person so wie angegeben vermutlich nicht existieren kann. Es geht um einfache Recherchen, die jeder selbst durchführen kann und darum, dass man für fremde Menschen im Internet niemals seine Hand ins Feuer legen sollte.
© Alle Rechte liegen bei Piri Robinson.
Pressekontakt: presse@imperialcrimes.de
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