Was danach geschah
Das Shoot-the-Messenger Syndrom
Eines war mir schon vor dem Reveal von Jasmin klar: Man braucht ein dickes Fell, um die Reaktionen auszuhalten. Es war bereits 2023 bei dem Reveal von Jule zu sehen, wieviele unterschiedliche Emotionen dadurch ausgelöst wurden. Nicht nur, dass die Twitterin, die den Stein ins Rollen brachte, wirklich mit Hass und Häme überschüttet wurde, es gab auch sogleich wilde Verschwörungstheorien: Da steckt ein System dahinter! Ekelhafte Twitter-Karens, die lediglich andere diffamieren wollen! Alles keine Beweise!
Ich kann nach einem Jahr Erfahrung mit Realfakes sagen: Es ist einfach, zu beweisen, dass eine Person existiert. Es ist ungleich schwerer, zu beweisen, dass eine Person NICHT existiert, und es ist fast unmöglich, zu beweisen, wer diese Person hinter dem Account ist. Jeder, der in so einem Fall wild von Spekulationen und Verdächtigungen fabuliert, kann sich gerne mal überlegen, wie so ein geforderter 'Beweis', dass XY diesen Account bespielt hat, denn bitte aussehen soll? Man kann leider nur auf Beobachtungen, Ähnlichkeiten, kleinen Indizien aufbauen. Der Realfake, der sich klar positioniert und seine Scharade öffentlich zugibt, ist zumindest in Deutschland leider noch nicht gesichtet worden.
Denken Sie bitte daran: Auch hinter den Accounts, die Realfakes aufdecken, stecken Menschen, genauso wie hinter den Accounts, die auf Realfakes hereingefallen sind, und man sollte beide Gruppen nicht einfach pauschal als 'dumm' bezeichnen oder sonst wie wenig schmeichelhaft beschimpfen.
Reaktionen
Zwei große Realfakes wurden bisher auf Twitter aufgedeckt: Jule Stinkesocke und Jasmin - die eine Kunstfigur war 15 Jahre lang aktiv, die andere nur 5. Die Reaktionen waren in beiden Fällen gleich: Zum einen gibt es eine Realitätsverweigerung, die beinhaltet, dass das ja alles nicht sein kann und der Realfake trotz allem ganz bestimmt echt ist, zum anderen setzt das Shoot-the-Messenger Syndrom ein: Dabei wird der Überbringer der Botschaft ordentlich angegangen.
Die meisten Leser haben aber zumindestens mitgenommen, dass der Jasmin-Account an der einen oder anderen Stelle einfach faul ist, und vielfach kam auch: 'Ich habs schon immer gewusst'.
Realitätsverweigerung
Es ist tatsächlich normal, wenn man nicht zulassen will, dass ein Account, zu dem man eine Bindung aufgebaut hat, in Wirklichkeit nicht das ist, was er vorgibt zu sein. Es tut mir leid, wenn ich da an Illusionen kratzen muss und ich wünschte, es könnte anders laufen. Aber diese Enttäuschung kann man niemandem nehmen.
Erstaunt hat mich allerdings ein Hardcore-Fan von Jasmin, der ihre Tweets zu Kantinenessen für Pulitzer-Preis-verdächtig hielt und nicht verstehen konnte, warum ein Realfake das machen sollte. Hm ja? Auch ein Großaccount muss erstmal groß werden und braucht eine Bubble, die hinter ihm steht und notfalls verteidigt. So lief es bei Jule, so lief es bei Jasmin: Ohne echte Menschen als Support, die mit Mistgabeln auf Kritiker losgehen, können Unstimmigkeiten nicht so leicht weggewischt werden. Und da auch ich nicht in die Zukunft sehen kann - vielleicht kommt sie ja wieder, die emsige Jasmin, und bespricht weiter merkwürdiges Essen.
Sicher wäre das Gefühl besser, wenn man den eigentlichen Verfasser und die Motivation dahinter immer bulletproof 100% benennen könnte. Es ist aber wesentlich schlimmer, wenn man als 'Opfer' total im Dunkeln tappt. Ich lasse an dieser Stelle den Link zu einem Beitrag hier, bei dem es um einen Realfake geht, der zwar aufgeflogen ist, aber die Person dahinter nicht ermittelt werden konnte: 'Mein Fake Jasmin Nicoletta Goldmann'.
Shoot the Messenger
Eine typische Reaktion auf meinen Tweet zu Jasmin sah zum Beispiel so aus:
Okee? Ich fürchte, hier gibt es ein paar Missverständnisse, mit denen ich an dieser Stelle aufräumen werde.
Ich bin freie Jounalistin, Mitglied im Verband und habe einen anerkannten Presseausweis, soll heißen, keinen, den man für ein paar Euro kaufen kann. Recherchen sind Teil meines Berufes und ich könnte diese nicht machen, wenn ich fest bei einem Medium angestellt wäre: Den Zeitaufwand bezahlt mir nämlich niemand 😉 Von wegen 'stundenlang über einen Twitteraccount recherchieren' - schön wär's. Dahinter steckt monatelange Arbeit, vor allem, wenn man diese wie wir im Team ergebnisoffen und multiperspektivisch angeht.
Ich wüsste nicht, was daran armselig ist, wenn man Realfakes aufdeckt, die das Vertrauen und die Zuneigung von Menschen zutiefst erschüttern und missbrauchen. Das trifft auch auf mein anderes Tätigkeitsfeld, True Crime zu, und hier reden wir von sexuellem Missbrauch und Mord. Ähm, wer genau ist in beiden Themenbereichen armselig? Der Täter oder die Person, die solchen Sachen nachgeht?
Ich habe das Glück, dass ich mir meine Projekte aussuchen kann, um das Beste rauszuholen und arbeite mittlerweile auch eng mit Behörden und Anwälten zusammen. Selbstverständlich mache ich nicht immer alles richtig, aber ich denke, dass zumindest meine Motivation integer ist: Ich will die Welt auf meine Art ein wenig besser machen und wenn ich es schaffe, zu verhindern, dass Menschen weiter gezielt getäuscht werden, ist das nur ein kleiner Schritt, aber es ist immerhin einer.
Und was den schmallippigen Satz 'Es gäbe genügend Accounts, bei denen es sich mehr lohnen würde' angeht: ja? Ich bin ganz Ohr. Es ist nur realistisch betrachtet nicht so, dass es reihenweise Realfakes gibt, die jahrelang aktiv sind und es zu 70K Followern bringen. Jule war mit Sicherheit der Extremfall. Ich bekomme viele Nachrichten, ob ich mir mal den einen oder anderen Account ansehen könne, es war allerdings bisher keiner dabei, der in dieser Liga spielt. Aber die Frau, von der diese Äußerung kam, hat bisher keinen Ton dazu verlauten lassen, welchen Schaden Realfakes anrichten, sondern hat entweder ein Problem mit dem Überbringer der Botschaft, der ihr nicht genehm ist, mit dem Umgang damit, für den der Überbringer aber nicht verantwortlich sein kann oder wie in diesem Fall: Es wurde der falsche Account angesehen. Prioritäten. So wichtig. Ich warte auf ihren Leitfaden: 'Wie man Realfakes korrekt erkennt und aufdeckt'.
Dann war da noch eine Frau, die mich als 'Wannabe-Sherlock ohne Verstand und Logik' betitelte, weil sie es geschafft hatte, ein Buch der ehemaligen Marketing Managerin von Kaufmich zu entdecken, das sich deutlich von Jasmins Schreibstil unterschied und das sie davon abgesehen sehr empfehlenswert fand. So hatte sie es in 5 Minuten geschafft, alle Indizien auszuhebeln und war sich auch tooodsicher, dass wir das Buch nicht kennen. Ja wirklich? Tatsächlich wurde dieses Buch längst als 'abgekupfert' klassifiziert und was den Schreibstil angeht, hatte ich in meinem Beitrag sehr deutlich gemacht, dass es bei Jasmin niemals um einen Zweitaccount ging, der die Positionen des eigentlichen Verfassers vertreten sollte, sondern um einen reinen Marketingaccount als niederschwellige Wissensressource, der genau wie die 100% passenden Beiträge auf der Plattform Kaufmich auch eine sehr einfache Ansprache verwendete. (Nun gut, hatte sie immerhin was zu lesen.)
Long story short: Niemand muss mit meinen Gedanken und Beobachtungen mitgehen. Es ist nicht mein Ziel, dass mir großflächig zugestimmt wird, sondern dass Menschen sensibilisiert werden, um nicht am Ende vor einem Scherbenhaufen zu stehen, weil mit ihrem Vertrauen gespielt wurde. Und wenn ich das auch nur in ein paar Fällen erreiche, bin ich zufrieden und halte den Rest aus.
Wer nochmal nachlesen will, worum es in beiden Fällen ging, hier bitte: