Faktencheck
zu Jule Stinkesocke
Der Unfall
Jule Stinkesocke, Klarname Julia Gothe, ist ein ganz normales 15jähriges Mädchen, besucht das Gymnasium, liebt Pferde und muss sich über nichts ernsthaft Sorgen machen. Sie wohnt zusammen mit ihren Eltern in einem kleinen Einfamilienhaus im Hamburger Stadtteil Lurup. An einem warmen Tag kurz vor den Sommerferien hat sie sich mit ein paar Freundinnen zum Schwimmen verabredet hat. Nur schnell nach Hause, etwas essen, dann sofort ins Freibad.
„Die 67-jährige Autofahrerin, die im Juli 2008 ein damals 15 Jahre altes Mädchen auf dem Weg zur Schule an der Kreuzung … schwer verletzte, wurde heute zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die Schülerin, die seit dem Unfall auf den Rollstuhl angewiesen ist, trifft den Feststellungen des Gerichts kein eigenes Verschulden. Die Unfallfahrerin hatte bis zum Schluss behauptet, das Mädchen habe die Straße bei Rot überquert.“
– Jule, 20. April 2009
Das Narrativ: Am 8. Juli 2008 wird Jule auf dem Fußweg von der Schule nach Hause von einer Linksabbiegerin erfasst und lebensgefährlich verletzt. Sie wird noch am Unfallort in ein künstliches Koma versetzt und kommt mit einem Rettungshubschrauber in eine Spezialklinik, das BG Klinikum Hamburg („Boberg“).
Dort diagnostizieren die Ärzte mehrere schwere Verletzungen, unter anderem am Kopf, im Bauchraum, an der Lunge, am Herz sowie diverse offene und geschlossene Knochenfrakturen. Auch die Wirbelsäule hat etwas abbekommen. Im Lendenbereich sind drei Wirbelkörper komplett zertrümmert, Knochenfragmente haben sich in das Rückenmark gebohrt – Jule ist querschnittgelähmt. Wochenlang liegt sie auf der Intensivstation, fast zwei Monate im künstlichen Koma. Es folgen diverse Operationen und eine mühsame Reha. Jule selbst zelebriert den Tag ihres Unfalls fortan in ihrem Blog mit einem Gyrosbaguette.
In den Hamburger Medien ist darüber nichts zu finden. Ein anderer Unfall, einige Monate zuvor im März 2008, wird hingegen in mehreren Artikeln erwähnt:
"Die 14-Jährige stand an der Kreuzung Rahlstedter Straße/Brockdorffstraße, als sie ihren Bus Richtung Großlohe nahen sah, mit dem sie nach Hause fahren wollte. Ohne auf den Verkehr zu achten, lief sie über die Fahrbahn und wurde dabei von einem Pkw erfasst. Die 67-Jährige Autofahrerin kam mit ihrem Pkw erst nach mehreren Metern zum Stehen, dabei wurde die Schülerin unter dem rechten Vorderrad eingeklemmt. “
– Abendblatt, 26.03.2008
Wie wahrscheinlich ist es, dass der eine Unfall sehr viel Aufmerksamkeit in Hamburger Medien bekommt – und ein anderer, bei dem das Opfer, ein ebenfalls junges Mädchen, mit dem Heli abtransportiert wird und kaum Überlebenschancen hat, unerwähnt bleibt?
Tatsächlich gibt es im August 2008 noch einen weiteren tragischen Unfall in Hamburg, bei dem eine von Jules späteren ‚Sportfreundinnen‘ aus ihrer anfänglichen Basketballgruppe schwer verletzt wird und von da an ihr Leben im Rollstuhl meistern muss, was die lokalen Medien gerne aufnehmen. Diese junge Frau kommt über Rollstuhlbasketball zum Para Kanu und wird auch in Jules Blog promotet, kennt Jule allerdings nicht, obwohl beide zur selben Zeit in Boberg gewesen sein müssen – und später jahrelang im selben Verein.
Der Führerschein
Mobilität nimmt in Jules Blog einen großen Raum ein, besonders die Themen Auto, Unfälle, Behindertenparkplätze, obwohl sie auch oft den ÖPNV in Hamburg und für Reisen innerhalb Deutschlands die Bahn nutzt.
Das Mädchen, das noch im Januar 2009 ihr Krankenhausbett nur für 1 Stunde verlassen darf, überrascht ihre Leser im 24. März mit der Nachricht: „Ich habe gestern Abend im ersten Anlauf meine praktische Fahrprüfung bestanden!“ und nennt das nach einem Spruch ihres Vaters „den Abschied aus dem bürgerlichen Leben“.
Erstaunlicherweise wird der Führerschein in keinem vorherigen Beitrag erwähnt. Egal ob Theorie- oder Praxisstunden, Erste-Hilfe-Kurs und Sehtest, medizinisch-psychologisches Gutachten – kein Wort darüber. Dabei müssen diese Stunden eine erfreuliche Abwechslung vom Klinikalltag gewesen sein.
Ich darf zur Zeit vier Stunden am Stück aus dem Bett und jede Woche eine mehr, wenn die Haut mitspielt. Ganz viel Krankengymnastik krieg ich schon und Psychotherapie und dann son Bildchen malen und Tonbilder antuschen und so Zeug halstücher batik… ^^
– Jule, 3. Februar 2009
Nicht nur deswegen war dieses Ereignis immer eines der strittigsten im Blog, denn Jule ist zu diesem Zeitpunkt gerade mal 16 Jahre und 7 Monate alt. Zudem bekommt sie eine Ausnahmegenehmigung für Jugendliche ab 17 Jahre ohne Begleitung durch eine geeignete Person erteilt.
Der Führerschein ab 17 kann mit 16 ½ Jahren beantragt und die theoretische Prüfung mit 16 ¾ Jahren absolviert werden, die praktische Prüfung darf frühestens einen Monat vor Erreichen des 17. Lebensjahres abgenommen werden. In Jules Fall hätte der Antrag erst Ende Februar eingereicht werden dürfen, ein halbes Jahr vor ihrem Geburtstag am 21. August. Die theoretische Prüfung hätte also frühestens am 21. Mai, die praktische am 21. Juli 2009 stattfinden können.
Erschwerend kommt hinzu, dass diese Ausnahmegenehmigung für Jugendliche ab 17 Jahre nur erteilt werden kann, wenn sie bestimmte, klar definierte Strecken alleine zurücklegen müssen, in der Regel Fahrten zum Ausbildungsplatz. Voraussetzung dafür ist das Vorliegen einer besonderen persönlichen Härte für den Antragsteller. Dies bedeutet, dass es sich einerseits um wichtige Fahrten für ihn selbst handeln muss (z.B. zum Ausbildungsplatz) und andererseits der Jugendliche aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse keine andere zumutbare Möglichkeit hat, das Fahrtziel zu erreichen.
Grundsätzlich haben Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln immer Vorrang. Dabei gelten Abwesenheitszeiten vom Wohnsitz bis 12 Stunden pro Tag oder Fahrtzeiten von etwa 1,5 Stunden pro Strecke bei täglichen Fahrten noch als zumutbar. Bei selteneren Fahrten müssen unter Umständen längere Abwesenheits- bzw. Fahrtzeiten in Kauf genommen werden. Außerdem können Ausnahmegenehmigungen auf Strecken bis zur nächsten geeigneten Bushaltestelle oder dem nächsten geeigneten Bahnhof begrenzt werden. Daneben sind auch sonstige Fahrgelegenheiten mit Familienangehörigen, Nachbarn usw. vorrangig zu nutzen.
Das Vorliegen einer besonderen persönlichen Härte richtet sich außerdem nach der Entfernung zwischen dem Startort und dem Fahrtziel: bis 10 km kann beispielsweise grundsätzlich keine Ausnahmegenehmigung erteilt werden.
Jules Situation im März 2009 ist allerdings so, dass sie weder weiß, welche Schule sie nach der Entlassung besuchen noch wo sie wohnen wird. Zu diesem Zeitpunkt steht immer noch eine Rückkehr in ihr Elternhaus und an die vorherige Schule im Raum. Warum sollte also eine Ausnahmegenehmigung für dermaßen ungewisse Verhältnisse, die eben nicht klar definiert sind, vergeben werden? Wenn es Eltern gibt, denen zu diesem Zeitpunkt zugetraut werden kann, dass sie ihre Tochter in die Schule fahren? Im Stadtbereich Hamburg, der mit ÖPNV sehr gut erschlossen ist? Bereits im Februar 2009 nutzt Jule problemlos Bus und U-Bahn.
Jules Schulen
Vor dem Unfall im Juli 2008 besucht Jule bis zur 10. Klasse das Gymnasium Dörpsweg in Hamburg. Mehrere Anfragen ergeben: Niemand dort kann sich an Jule oder den Unfall erinnern.
Jule sucht noch im Krankenhaus nach einer Schule, in der sie im Herbst 2009 mit Klasse 11 nach einem Jahr Pause wieder einsteigen kann.
Ich habe auf den Rat der netten Sachgebietsleiterin in der Schulbehörde gehört und bei dem Gymnasium mit Schwerpunkt „Pädagogik/Psychologie“ angerufen und gefragt, ob ich mir die Schule ansehen dürfte. „Dürfen Sie gerne, nur die Bewerbungsfristen für das kommende Schuljahr sind schon lange abgelaufen.“ Ich habe erstmal nichts gesagt, sondern habe mich heute auf den Weg gemacht.
– Jule, 14. Mai 2009
Fristen sind für Jule generell kein Problem. Sie rollt unangemeldet in die Anna-Warburg-Schule, greift sich den Oberstufenleiter, lädt ihn auf einen Kaffee ein – und darf sich, nachdem sie ihm ihre Lebensgeschichte erzählt hat, danach natürlich anmelden. Wir haben bei besagtem Oberstufenleiter nachgefragt. Er erinnert sich nicht an einen solchen Fall. Eine Lehrerin versichert uns, dass eine Person wie Jule an dieser Schule nicht bekannt ist, und dass die örtlichen Beschreibungen auch nicht ganz hinkommen.
"Ich bin von 2009-2011 zur Anna-Warbung-Schule gegangen, war dort der erste Jahrgang und habe dort Abitur gemacht. Ich bin sicher, dass diese Person mir dort nie begegnet ist, ich habe auch nie von ihr gehört." - ehemalige Schülerin
Es ist allerdings ausgeschlossen, dass Jule in ihrem Facebook-Profil ‚versehentlich‘ eine falsche Schule nennt, da der Schwerpunkt, für den sie sich entscheidet, in Hamburg zu dieser Zeit kein zweites Mal angeboten wird.
Der Faktencheck zu Jule Stinkesocke, Teil 1
Jules Wohnungen
Jules Eltern besitzen ein EFH in Hamburg-Lurup voller Stufen und Treppen, das nicht behindertengerecht umgebaut werden kann. Man fragt sich zwar, wie dieses Gebäude konstruiert ist (mehr als eine Treppe nach oben und eine in den Keller erscheint bei 3 Bewohnern eher unwahrscheinlich) und angesichts der Tatsache, dass Jule nun rund eine dreiviertel Million Euro besitzt, sollte ein Umbau kein großes Ding sein.
Abgesehen davon ist das Verhältnis zwischen Jule und ihren Eltern sehr schlecht, was man sicher mit einer Familientherapie in Griff bekommen könnte. Aber Jule möchte mit ihren 16 Jahren unbedingt allein wohnen, am liebsten in einer behindertengerechten WG. Noch im Krankenhaus tut sich plötzlich eine Möglichkeit auf:
Eine Rollstuhlfahrerin, die ich entfernt vom Sport kenne, möchte von zu Hause ausziehen und sucht ebenfalls einen WG-Platz, zusammen mit ihrem Freund. Sie sind 18 bzw. 20 Jahre alt. Außerdem hat eine 24-jährige, die zwar schon länger als ich, aber trotzdem noch relativ neu im Rollstuhl sitzt, ganz lockeres Interesse gezeigt. Sie will es sich überlegen, aber grundsätzlich möchte sie schon auf lange Sicht von zu Hause raus.
– Jule, 28. April 2009
Wenig später meldet noch ein weiteres Paar, Sofie und Frank, beide Rollstuhlfahrer, großes Interesse an. Eine 6er WG soll es werden. Fehlt nur noch eine geeignete Wohnung, die barrierefrei und bezahlbar ist.
Der Wohnungsmarkt ist in Hamburg genauso angespannt wie anderer Orts auch. Aber bei Jule läuft es wie am Schnürchen. Sie findet nicht nur 5 potentielle Mitbewohner, sondern auch gleich die passende WG-taugliche Wohnung: Über die zentrale Wohnungsvergabestelle für Rollstuhlfahrer in Hamburg bekommen die sechs umgehend eine rollstuhlgerechte Wohnung in Eimsbüttel, die seit Monaten leer steht und sich wegen ihrer Größe optimal als WG-Wohnung eignet. Erstbezug. Sie zeigt im Blog sogar Bilder von der Wohnungsbesichtigung. Auf den Fotos kann man 3, vielleicht auch nur 2 Zimmer zählen.
Aber laut Jule residiert die WG ab Juni 2009 in einer Wohnung mit 5 oder 6 Zimmern auf insgesamt fast 250m², im Nordwesten Hamburgs zwischen Volkspark und Niendorf, es läuft alles gut und Jule erzählt viele lustige WG-Anekdoten.
Leider ist diese WG fernab von jeder Realität. Das Bezirksamt Wandsbek ist im gesamten Stadtgebiet Hamburg zuständig für die Vermittlung von rollstuhlgerechtem Wohnraum. Es äußert sich auf Anfrage dazu wie folgt:
Als allgemeine Einschätzung können wir sagen, dass die zentrale Vergabe für rollstuhlgerechte Wohnungen derartige Wohnungen wie beschrieben nicht für Wohngemeinschaften (WG) vermittelt. Es ist immer ein Dringlichkeitsschein erforderlich, der für WG nicht erteilt wird.
5-Zimmer-Wohnungen sind Familien vorbehalten, haben jedoch keine 250 qm. Im Bezirk Eimsbüttel gibt es keine rollstuhlgerechte Wohnung dieser Größe im sozialen Wohnungsbau, die in der genannten Zeit (2008/2009) neu gebaut wurde. Freifinanzierte Wohnungen werden hier in der Regel nicht gemeldet. Sehr große Wohnungen sind rar und stehen erfahrungsgemäß nicht lange leer.
– Bezirksamt Wandsbek
Das Wunderwohnprojekt
Ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel, beschließt Jule im Mai 2011 aus der großen WG-Wohnung in Eimsbüttel auszuziehen – und der Rest der WG gleich mit. Grund dafür ist das Wunderwohnprojekt, das wie ein Pilz aus dem Boden schießt.
Jules Mitbewohner/Hausjurist Frank hat einen Buddy, dem ein altes Fabrikgebäude gehört: Riesige Fabrikhalle, an einem idyllischen Kanal, etwa 400 Quadratmeter Grundfläche, 30 Meter hoch, es sind bereits fünf Zwischendecken und zwei Personenaufzüge eingebaut worden. Frank beschließt, zwei Etagen anzumieten und als rolligerechte WGs auszubauen: Acht bis zehn Zimmer plus großer Gruppenraum pro Etage entstehen. Dieses Wohnprojekt ist dazu ein echtes Schnäppchen: Kosten pro Monat etwa 4.000 Euro Kaltmiete plus Umlagen. Und Frank hat noch ganz andere Pläne:
Abgewickelt wird das ganze über eine extra zu diesem Zweck gegründete Gesellschaft (um das finanzielle Risiko überschaubar zu halten, denn er will natürlich nicht oder nur begrenzt privat haften müssen). Dieser vermietet dann sowohl an Privatpersonen als auch an einen Verein, der Sportler mit Behinderungen fördert. Die Idee dahinter ist, eine Art Sportler-WG für behinderte Sportler zu gründen und die Sportler mit Hilfe dieses Vereins mit allem zu versorgen, was sie brauchen. Also mit Anbindung an eine Schule oder an die Uni, bei gleichzeitiger sportlicher Förderung und eventuellen Pflegeleistungen, sofern benötigt.
– Jule, 17. Mai 2011
Bereits am 1. Juli 2011 zieht die WG geschlossen um und innerhalb von 2 Monaten hat das Projekt nochmal ganz andere bauliche Formen angenommen.
Denn es funktioniert längst noch nicht alles und es gab auch noch jede Menge Änderungen in den ursprünglichen Planungen. Eine Änderung: Durch extreme Brandschutzauflagen mussten die Pläne zum Innenausbau komplett überarbeitet werden. Alle Zimmer haben nun ein eigenes Bad (bis auf zwei Zimmer, die sich ein mittiges Bad teilen), dafür gibt es aber nur sieben Bewohner pro Etage statt geplanten 10. Ein Raum, der als achtes Bewohnerzimmer geplant war, durfte wegen Brandschutzauflagen nicht als Schlafzimmer verwendet werden. Dritte Änderung: Es gibt drei Etagen statt geplanter zwei. Damit sind die oberen drei Stockwerke komplett mit dem Wohnprojekt belegt.
– Jule, 7. Juli 2011
Respekt für diesen flexiblen Innenausbau in Rekordgeschwindigkeit. Eine riesige Dachterrasse gibt es für die Rolli-Sportler-WG über 3 Stockwerke auch noch als Tüpfelchen auf dem i.
Nach Jules zahlreichen Angaben ist diese Fabrik zu finden: es handelt sich um die historische Schokoladenfabrik in der Wendenstraße 130, 20537 Hamburg-Hammerbrook. Sie wurde im Jahre 1908 konstruiert und für den Süßwaren-Hersteller Reese & Wichmann gebaut. Im Jahre 1997 wurde das ehemalige Fabrikgelände in Hammerbrook aufwendig revitalisiert, aufgestockt und als Büro- und Wohnlofts an den Immobilienmarkt gebracht.
Kleiner Schönheitsfehler: Es gab dort nie ein inklusives Wohnprojekt über 3 Stockwerke mit 21 Zimmern.
Paratriathlon
Vor ihrem Unfall ist Jule ein echtes Pferdemädchen und teilt mit ihren drei besten Freundinnen das gemeinsame Hobby: Reiten.
Die Leidenschaft für Pferde ist übrigens ihr (finanzielles) Glück im Unglück: Ihr Vater, der sich bei der Schmerzensgeldforderung vorgeblich keinen Anwalt leisten kann, hat, als Jule anfing zu reiten, ein private Unfallversicherung abgeschlossen. Die Versicherungssumme bei Voll-Invalidität beträgt 100.000 Euro, allerdings mit einer 5-fachen Progression. Jule schlüsselt die Zahlungen, die sie nach dem Unfall erhält genau auf: Gestatten, Krösa.
Zurück zu den Freundinnen:
ich hatte so drei freundinnen wo ich gedacht hab: mit denen kannst du alles machen. über alles reden. wenn du scheiße gebaut hast kannst du die um halb 4 in der nacht anrufen ohne dass der erste satz ist: weißt du wie spät es ist?
die erste hat mich hier besucht und meinte nur: sorry aber das ist mir hier zu viel realität. nimms mir nicht übel aber ich werd dich hier eher nicht besuchen können. vielleicht telefonieren wir mal. angerufen hat sie nicht.
die zweite war hier und hat als ich noch auf intensiv lag die ganze zeit davon gefaselt dass ich bald wieder gesund bin und wir dann mal wieder zusammen reiten müssen. damals hatte ich noch eine rückenmarks quetschung im hals so dass ich noch beatmet werden musste und nichts sagen konnte. und sie hat ne halbe stunde auf mich ein geredet und nur stuss erzählt. die war dann nochmal hier als ich auf normaler station war und diese sache im hals völlig weg war und da meinte sie: wenn das geblieben wäre hätte ich mir keine freundschaft mehr vorstellen können. da fehlen einfach die gemeinsamkeiten. aber jetzt wo alles wieder weg geht bin ich sehr glücklich. da hab ich dann gesagt: das geht nicht alles wieder weg. und dann sie: naja aber es ist nicht so schlimm wie vorher. du verstehst schon. wenn es so wäre wie vorher, was soll ich dann meinen freunden sagen? ich besuche meine beste freundin im pflegeheim?
naja und die dritte kommt immer noch mal wie gesagt
– Stinkesocke, 5 Februar 2009
Nach dem Unfall muss sie feststellen, dass sich die alten Freundschaften genau wie ihr Hobby auflösen. Über ihre WG und den Sport findet sie schnell neue Freundinnen. Im Februar 2009, sieben Monate nach ihrem Unfall, ist Jule fit genug, um Reha-Sport zu machen und spielt einige Male Rollstuhl-Basketball. Aber schon im Mai entscheidet sie sich für eine andere Sportart – Paratriathlon.
Das Mädchen, das vor seinem Unfall pferdeverrückt ist und jede Minute im Stall verbringt, besucht das Pflegepferd Daisy nie wieder. Stattdessen steht nun Behindertensport und in erster Linie Triathlon-Training auf der Tages- bzw. Nachtordnung:
Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ich mal zur Nachtzeit trainieren würde. Man hört und liest ja immer mal wieder, dass einzelne Sportlerinnen und Sportler in den frühen Morgenstunden joggen gehen, aber organisiertes Training zur Nachtzeit? Während andere Leute schlafen oder in Partystimmung sind?
Schon um kurz nach halb Zwei wurde ich mit einem Kleinbus abgeholt. Am Steuer saß Tatjana, die ich schon vom Trainingslager kannte. Im Auto traf ich Yvonne. Die Bänke waren ausgebaut, dort waren vier Rennrollstühle und der Alltagsrolli von Yvonne eingequetscht. Mein Alltagsrolli kam noch hinzu. Ich kuschelte mich neben Yvonne auf die Beifahrer-Sitzbank. Schon ging es los. War das aufregend!
– Jule, 27. Juni 2009
Jule findet im Verein schnell neue Freundinnen, mit denen sie nicht nur trainiert, sondern auch ihre Freizeit verbringt: Sofie, Lina, Simone, Cathleen, Nadine, Kristina, Merle, Yvonne, Lisa.
Schwimmen, Radfahren (Handbike), Laufen (Rennrollstuhl)
Paratriathlon hat in Deutschland eine sehr junge Geschichte: Ende der 90er Jahre gibt es die ersten Wettkämpfe, die 1. Deutsche Meisterschaft im Paratriathlon wird 1999 in Witten über die Sprintdistanz ausgetragen. Bei den Paralympics ist der Paratriathlon erst seit Sommer 2016 vertreten.
Jules Dachverein hat damals keine Triathlon-Abteilung. Diese wird zwar 2010 gegründet, nimmt aber keine Athleten mit Behinderung auf, da sie dazu im Deutschen Behindertensportverband (DBS) organisiert sein müssten, was viel Geld kostet. Behindertensportvereine wie Jules Verein sind zwar im Verband, haben aber keine Paratriathlon- Abteilung, u.a. weil Athleten fehlen, die diese anspruchsvolle Sportart trotz Behinderung ausüben wollen oder können. Noch dazu ist Paratriathlon eine finanzielle Frage: das Equipment ist sehr teuer, allein ein Renn-Rollstuhl kostet etwa 5000€.
In Jules Sportverein gibt es zu ihren Zeiten zwar einige Handbiker, die dadurch die DBS-Lizenz haben, aber zusätzlich die Lizenz eines Radsportvereins benötigen. Paratriathleten gibt es nicht. Zur Einordnung: 2010 finden sich in ganz Deutschland nicht mal 20 behinderte Triathleten, die in sechs Leistungsklassen gewertet werden, wobei die Leistungsfähigkeit der Athleten von Klasse 1- 6 zunimmt. Jule fällt in die ‚schwächste‘ Leistungsklasse TRI1: Rollstuhlfahrer. Bei der Paratriathlon-DM in Hamburg 2010 tritt eine einzige Frau an.
Obwohl bis 2015 viele Beiträge sehr deutlich von Jules Sportverein handeln, kann Jule als Paratriathletin glaubhaft vermitteln, dass sie zwar Mitglied ist, aber bei einem anderen Verein trainiert und somit nicht zwingend bei Jules Sportverein bekannt sein muss, sollte jemand Nachforschungen anstellen. Obwohl sie bei Vereinsfeiern hilft und sogar Jugendfreizeiten betreut.
Bei welchem Verein mit Triathlon-Abteilung in Hamburg trainieren Jule und ihre Freundinnen? In ihrem Blog wird es so dargestellt, als würde ein ganzes Rudel junger, behinderter Mädchen beim Nachttraining im Rennrolli durch Hamburg und über den Elbdeich donnern, mit Sondernutzungs-Erlaubnis, Begleitfahrzeug und Straßensperre. Die ehrgeizigen Paratriathletinnen wären sicher nicht unbemerkt geblieben. Trotzdem kann sich niemand aus der Szene an sie erinnern: Weder die Vereine, noch der Triathlon-Verband, noch einzelne Athleten. Egal, wo wir nachfragen – niemand weiß, wer diese Mädchen gewesen sein könnten.
Der Faktencheck zu Jule Stinkesocke, Teil 2
Jules Fotos
In ihrem Blogger-Profil von 2009 und einem schriftlichen Interview von 2010 zeigt Jule dieses Bild von sich:
In ihrem Facebook-Profil gab es ein 2. Bild, das dieselbe junge blonde Frau zeigt.
Die Frau aus Bayern, die im Juni 2023 fast 15 Jahre nach dem ersten Beitrag von Jule Stinkesocke erfährt, dass sie das Gesicht dieses Blogs war, zeigt sich verwundert, denn sie hat noch nie von Jules Online-Tagebuch gehört. Sie hat sich 2015 komplett aus den sozialen Medien zurückgezogen, eine Weltreise gemacht, zwei Kinder bekommen und erfolgreich Karriere gemacht. Die Welt der querschnittsgelähmten Rollstuhlfahrerin, die sich nach einem Autounfall auf dem Schulweg in einem neuen Leben zurechtfinden muss, die trotz ihres Handicaps Medizin studiert, Kinderärztin wird und schließlich sogar ein behindertes Pflegekind aufnimmt, ist ihr vollkommen fremd.
Und doch ist es ihr Gesicht auf Jules Blogger-Profil, dem Facebook-Profil und anfangs auch dem Twitter-Account. Hunderttausende Menschen glauben, dass dieses Foto die echte Jule zeigt: Eine junge blonde Frau aus Hamburg, die einen schweren Schicksalsschlag verkraften muss und immer weiter kämpft, gegen Vorurteile, gegen Ableismus, gegen die Diskriminierung von Behinderten im täglichen Leben. Auch das angebliche Foto über Jules Bett, das ihre Füße mit einer Stinkesocke zeigt, ist in Wahrheit von ihr.
2019 sind Jules Blogger- und auch das Twitter-Profil längst ohne Bild, das Facebook-Profil gelöscht, auf Twitter stellt Jule das Bild der australischen Porno-Darstellerin Kylie Harris ein. Ein neues Profilbild, eigentlich kein großes Ding auf Twitter, aber bei vielen Followern bleibt das nicht unbemerkt. Nicht wenige können sich an das alte Bild erinnern und fragen nach – warum sieht Jule so ganz anders aus? Warum ist sie nicht mehr blond? Jule antwortet diplomatisch: „Ist sie nicht hübsch?“
Die Freundinnen
Jules neue Freundinnen und/oder Mitbewohnerinnen melden sich genau wie Jule im Mai 2009 auf Blogger an und erstellen ein Profil. Mit Bild. Das war zwar nicht obligatorisch, aber zu dieser Zeit steckte die Rückwärtssuche bei Fotos noch in den Kinderschuhen. Nicht aber 2023 und so konnten wir einige von Jules Freundinnen finden, die in den ersten Jahren fleißig im Blog kommentieren.
Sofie
Jules WG-Mitbewohnerin Sofie hat ein sorgfältig ausgearbeitetes Profil: 25, Diplom-Psychologin, wegen einer angeborenen Querschnittlähmung (Spina Bifida) von Geburt an im Rollstuhl, Partnerin von Jules anderem Mitbewohner, dem Verwaltungsjuristen Frank, Jules Haus- und Hofanwalt. Sie gibt Jule gerne persönliche Ratschläge in den Blog-Kommentaren und hilft im wahren Leben, wenn mal wieder ein Mädchen mit Problemen auf Jules Matte steht. Nach April 2014 verschwindet Sofie sang- und klanglos aus Jules Leben.
Die Frau aus Bayern, die im Juli 2023 erfährt, dass ihr Profilbild zu Jules WG-Mitbewohnerin Sofie gehört, ist schwer erstaunt, denn sie hat noch nie von Jule Stinkesocke gehört und war noch nie in Hamburg oder an der Ostsee. Sie erinnert sich jedoch, dass sie den Mann, der immer in Jules Impressum stand, bei einem Übungsleiter-Lehrgang vor fast 2 Jahrzehnten kennengelernt hat.
Sie bekommt Jahre später als Sofie in Jules Blog ein Denkmal gesetzt: Beide sitzen wegen Spina Bifida im Rollstuhl, beide sind Diplom-Psychologin, klug, sprachlich gewandt.
Lina
Mit Linas Profil wird sich im Gegensatz zu Sofie nicht viel Mühe gegeben, man erfährt im Blog kaum etwas über sie. Lina, eigentlich Karolina, ist eine 18jährige Rollstuhlfahrerin, die Jule vom Sport kennt und zieht 2009 gemeinsam mit ihrem Partner, dem 20jährigen Liam, Fußgänger und absoluter Lappen, in Jules WG. Beide ziehen im Juli 2010 bereits wieder aus, da sie sich trennen und werden ab diesem Zeitpunkt nicht mehr erwähnt.
Die Frau aus Berlin, die im Juli 2023 erfährt, dass ihr Profilbild zu Jules WG-Mitbewohnerin Lina gehört, staunt nicht schlecht, da sie weder von Jule noch ihrem Vertrauten jemals gehört hat. Der einzige Anknüpfungspunkt: Sie schwimmt bis 2008 im Verein. Ihr Foto wurde lange auf der Website von Bethel, einer Stiftung, die sich in vielen Bundesländern für behinderte, kranke, alte oder benachteiligte Menschen engagiert, als Werbung für die Ausbildung zur Betriebswirtin/zum Betriebswirt im dualen Studium genutzt.
Simone
Simone ist eine Sportfreundin von Jule, 1 Jahr jünger und ihre erste Kuschelpartnerin im Whirlpool. Sie sind später gemeinsam in der Trainingsgruppe Paratriathlon und besuchen mehrere Trainingslager. Simone ist immer sehr auffällig angezogen, trägt Kleidung, die ihre Mutter genäht hat – und wird das letzte Mal im Oktober 2013 erwähnt.
Die Frau auf dem Bild kommt aus Karlsruhe und ist auf Google bis 2009 als Schwimmerin zu finden.
Helenas Pferde
Von Jules Pflegetochter Helena, mit der sie ab 2018 zusammen mit Marie an der Ostsee wohnt, gibt es keine Profilbilder - aber Bilder beim Reiten und von den Pferden aus ihrem Reitverein.
Wir konnten keinen Reitverein an der Ostsee finden, zu dem diese Pferde gehören. Es gibt aber eine Ferienanlage der Hamburger Sportjugend an der Ostsee, in der Freizeiten für Kinder aus Sportvereinen stattfinden. Die Kinder, die an diesen Vereins-Freizeiten teilnehmen, dürfen an einem Nachmittag bei einem Pferdehof in der Nähe Ponyreiten gehen. Die Besitzerin des Hofs sagte uns, dass sie die beiden Pferde erkennt.
Der Faktencheck zu Jule Stinkesocke, Teil 3
© Alle Rechte liegen bei Piri Robinson.
Pressekontakt: presse@imperialcrimes.de
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